Die Freie Gesellschaft (1)

Johann Most – Die Freie Gesellschaft

Wir werden den ganzen Text in drei Teilen hier veröffentlichen, dann könnt ihr den über die nächsten Tage quasi mit uns lesen. Den ganze Text findet ihr bei zu Großer Neugier hier.

Das höchste Glück, welches der Mensch erreichen kann, ist ein Zustand, wo Jeder mit möglichst geringfügiger Anstrengung die denkbar vollkommenste Befriedigung aller seiner Bedürfnisse bewerkstelligt. Je mehr man sich diesem Verhältnis annähert, desto entschiedener wird man seine individuelle Freiheit gewahrt finden. Denn je kürzer jener Zeitabschnitt ist, innerhalb welchem der Mensch die Mittel zu seinen höchsten Lebenszwecken erzeugt, ein desto längerer Zeitabschnitt ist ihm zum Genuss belassen. Wenn es vielleicht nie möglich sein wird, die Teilnahme an der Produktion der Güter jeder Unannehmlichkeit zu entkleiden, so liegt es auf der Hand, dass umgekehrt, der unbeschränkte Güterverbrauch den individuellen Neigungen den weitesten Spielraum lässt und die Höhe des Genusses wesentlich mit dem persönlichen Willen und Bedürfnis in Einklang zu bringen erlaubt. Es wird also ein System zu finden sein, bei welchem die Menschen mehr und mehr die Erzeugung ihrer Verbrauchsgegenstände sich erleichtern. Dieses System ist die Waarenerzeugung durch organisierte Arbeitskräfte und mit gemeinsamen Arbeitsmitteln – mit anderen Worten: die kommunistische Produktionsweise.

In technischer Beziehung ist über die Wahrheit dieser Voraussetzung längst kein Zweifel mehr möglich; denn die gegenwärtige Entwickelung der Produktionsverhältnisse lehrt mit jedem Tage einleuchtender, dass im gleichen Grade, wie sich der Produktionsprozess organisatorisch vervollkommnet, mehr Waaren durch weniger Arbeitskräfte in gleicher Zeit verfertigt werden können. Und nur weil die Arbeitszeit beim Fortgang dieser Entwickelung keine stufenweise Verkürzung erfährt, und weil den arbeitenden Volksmassen unter dem Regimente des Privatkapitalismus durch parasitenartige Nichtarbeiter das Recht auf die Konsumtion bis zu dem Minimum der blossen Existenzmöglichkeit beschränkt wird, steigt mit der Leistungsfähigkeit der produktiven Menschen deren Mühseligkeit und Lebensunsicherheit. Die Völker hungern aus Ueberfluss an Nahrung, frieren aus allzu grossem Reichthum an Heizungsmaterialien, gehen verlumpt wegen einer zu riesigen Menge fertiger Kleider umher, und haben kein Obdach, weil es zu viele schöne Wohnungen gibt! – –

Dieses absurde Verhältniss beweist, dass der schwierige Punkt nicht mehr auf dem Gebiete der Produktion, sondern auf dem der Konsumtion liegt. Es ist keine Rede mehr davon, dass die Bedürfnissgegenstände der Menschen nicht in genügender Menge oder Geschwindigkeit verfertigt werden könnten. Es handelt sich blos darum, diese nahezu unerschöpfliche Leistungsfähigkeit auf produktivem Gebiete in Einklang zu bringen mit den menschlichen Bedürfnissen, indem alle jene Dinge hinweg geräumt werden, welche der Befriedigung derselben die denkbar engsten Schranken auferlegen.

Hier muss also der Hebel angesetzt werden! – Es ist nicht nöthig, in organisatorischer Beziehung auf dem Gebiete der Produktion einen Stillstand zu proklamiren oder gar auf frühere Formen der produktiven Organisationen zurückzugreifen; vielmehr darf und muss an den bestmöglichen Ausbau bereits vorhandener Organisationen der Industrien. Landwirthschaft, des Verkehrswesens u. s. w. gedacht werden. Je riesiger dieselben sich gestalten, desto leistungsfähiger sind sie nach unwiderlegbarer Erfahrung. Das ist eine mathematische Wahrheit, und es kann der zukünftigen Menschheit nicht einfallen wollen, sich der Vortheile, welche sich ganz von selbst daraus ergeben, zu entschlagen.

Um was es sich handelt, das ist einzig und allein die gleichmässige Nutzbarmachung der Ergebnisse, welche die Waarenproduktion durch die denkbar grossartigst organisirte Arbeit darbietet, für alle Menschen.

Das kann geschehen, wenn die Arbeitsbienen die Drohnen beseitigen!

Und ein neues, freies Arbeits- und Genuss-System kann sehr wohl etablirt werden, ohne dass sich die produktive Organisationskraft zu zersplittern und aufzulösen braucht, aber auch ohne dass über allen diesen tausendfältigen organischen Produktionsgebilden sich ein neues Herrschaftsgebäude (eine Archie) erhebt. Der Anarchismus (die Nichtherrschaft) ist nicht – wie böswillige Leute behaupten – ein Feind harmonischer, zweckmässiger Organisation, sondern ein Feind der tyrannisch (herrisch – herrschaftlich) gegliederten Verwaltung.

Einem althergebrachten politischen Aberglauben gemäss, blickten Diejenigen, welche an die Lösung der sozialen Frage dachten, überall zunächst zum Staat, wie zu einer Art göttlicher Allmacht empor und redeten sich ein, dass diese unbegriffene Gewalt der geeignete Faktor sei, alles Gute in die Welt zu setzen, wenn sie nur in der geeigneten Weise dazu veranlasst würde. An die Stelle der ”himmlischen Mächte“, welche der bedrängte Mensch in früheren Zeiten noch grösseren Unverstandes um Glück und Segen anflehte, war gewissermassen ein politischer Herrgott getreten.

Diese Anbeterei des Staates war ebenso naiv, wie die Gottesverehrung. Wie sich die Gläubigen von ehedem einen aussernatürlichen Regulator der Dinge vorstellten, so träumten die Neugläubigen von einer ausser- und übergesellschaftlichen Staatsmacht. Sie begriffen also nicht, dass der Staat nichts Anderes ist, als ein Gewaltsorganismus, welcher von Denen geschaffen und gehandhabt wird, deren materielle Stellung in der Gesellschaft es erlaubt, die Uebrigen auszubeuten und zu unterdrücken. Was sie gegen die herrschenden Klassen glauben in das Spiel bringen zu können, ist nichts Anderes, als die organisirte Tyrannei derselben. Es wäre nicht minder naiv gewesen, wenn sie in der Einbildung gelebt hätten, die Emanzipation des Proletariats müsse durch die Bourgeosie besorgt werden; denn es würde das aufs Nämliche hinausgelaufen sein.

Im öffentlichen Leben haben eben die Menschen das Affenartige bisher ebenso wenig ganz abstreifen können, wie in ihrem privaten Handeln. Weil den Arbeitern die Geschichte lehrt, dass jedesmal, wenn eine Volksklasse sich frei machte, dieselbe vor Allem die Staatsgewalt in ihre Hände zu bekommen trachtete, so wurde daraus der falsche Schluss gezogen: dass das Proletariat auch zunächst ”an’s Ruder“ kommen müsse, bevor etwas Weiteres geschehen könne.

Es wurde dabei übersehen, dass es bei den bisherigen Gesellschaftsumwälzungen sich nur darum handelte, an die Stelle einer herrschenden Klasse eine andere zu setzen, nicht aber die Freiheit des ganzen Volkes zu errichten. Wenn z. B. bei dem jüngsten dieser Umgestaltungsprozesse die Bourgeoisie die Staatsgewalt eroberte und dieselbe fester als je organisirte, so begreift sich das sehr wohl. Sie hatte mittelst dieser Macht einerseits die Aristokratie alten Schlages so empfindlich wie möglich zu treffen, resp. lahm zu legen, und andererseits sich dahinter vor dem arbeitenden Volke, das sie auszubeuten beabsichtigte, zu verschanzen.

Ganz anders steht es hinsichtlich des Strebens der arbeitenden Volksmassen von heute. So weit dasselbe konsequenter Natur ist – und unklare oder halbheitliche Seitenströmungen können hier überhaupt nicht in Betracht kommen – läuft es doch wahrhaftig nicht darauf hinaus, eine neue Klassenherrschaft zu etabliren; vielmehr wird zum ersten Male die Abschaffung aller Klassenvorrechte und mithin der Klassen selbst angestrebt.

Gegen wen also sollte sich ein neues Gewaltsinstrument – ein Staat – kehren? Wessen Privilegien sollte er schützen? Wer sollte durch ihn unterjocht und im Zaume gehalten werden?

Vielen sozialistischen Schriftstellern scheinen diese Fragen sich schon längst aufgedrängt zu haben, so oft sie an den Zusammenbruch des Bestehenden und an die Neugestaltung des ganzen sozialen Lebens dachten. Aber gewöhnlich schlichen sie gar sachte daran vorbei, gerade als ob eine präzise Antwort, die natürlich in der Verneinung des Staates hätte gipfeln müssen, ihr schlechteres Ich zu erschrecken geeignet gewesen wäre.

So sagten sie denn: es werde das Proletariat zur Herrschaft gelangen; aber in dem nämlichen Augenblick, wo das der Fall sei, höre diese Herrschaft wieder auf, weil der Gegenstand der Beherrschung fehle!! – Solche und ähnliche Flunkereien sollten darüber hinweghelfen, eine kühne Wahrheit aussprechen zu müssen.

Wäre man anders zu Werke gegangen, hätte man den letzten Rest der in die Anfänge der sozialistischen Bewegung noch stark hineinspielenden jakobinisch-liberalen und bourgeois-radikalen Doktrinen, die man aus sogenannten Nützlichkeitsgründen glaubte mehr oder weniger schonen zu müssen, total über Bord geworfen – so wäre man sicher seitens der Arbeiter aller Länder (auch der deutschsprachlichen) längst zu der Ansicht gelangt, dass die Sozialisten nicht diesen oder jenen roth angelaufenen Extrastaat anzustreben haben, sondern dass sie im Gegentheil die Staatsidee als solche bekämpfen und verneinen müssen. Das ganze sinnlose Geschwafel von ”Volksstaat“, ”Freistaat“ u.s.w. wäre dann der Welt erspart geblieben, und das Proletariat wäre an prinzipieller Klarheit bedeutend weiter.

Dass eine Staatsgewalt (Archie) in einer freien Gesellschaft sich ganz von selbst als hinfällig erweist, lässt sich leicht begreifen, wenn man die Zwecke betrachtet, welche bisher der Staat zu erfüllen hatte.

Die Gesetzgeberei dreht sich durchweg um Mein und Dein. In einer Gesellschaft, wie die heutige ist; in einer Gesellschaft, wo ein beständiger Krieg Aller gegen Alle, wo wilder Kampf um’s Dasein herrscht; in einer Gesellschaft, wo ein kleiner Prozentsatz der Bewohner auf Bergen von Reichthümern thront, während die Mehrheit des Volkes, selbst bei angestrengtester Arbeitskraft, nicht immer Aussicht hat, auch nur vegetiren zu können, und wo Hunderttausende dem nackten Elend ausgesetzt sind – in einer solchen Gesellschaft verstehen sich dickleibige Strafkodexe, zahllose Exekutoren, Richter, Staatsanwälte, Gensdarmen, Polizisten, Gefängnisse, Justizhallen und hundert ähnliche ”Ordnungs“-Instrumente ganz von selbst. In einer Gesellschaft aber, wo jeder Mensch in der Lage ist, seine Daseinszwecke ungeschmälert zu geniessen, wo ein gleichheitliches und hochentwickeltes Erziehungswesen jedem Individuum die Möglichkeit darbietet, von den Ergebnissen einer frei entfalteten Wissenschaft nach Herzenslust zu zehren, und wo die Gegensätze zwischen Arm und Reich total unbekannt sind, hören mit den Ursachen der Verbrechen diese selbst auf, in Erscheinung zu treten. Der Zweck einer Strafgesetzgebung ist nicht mehr vorhanden. Der damit zusammenhängende Beamtenapparat ist überflüssig geworden. Aehnlich steht es mit der sonstigen Gesetzgeberei.

Die in gesetzliche Käfige gezwängten Menschen von heute werden in den Augen der künftigen Gesellschaft wie die Insassen eines zoologischen Gartens erscheinen.

Selbst solche Dinge, welche nur geschehen können nach vorhergegangener Uebereinkunft, bedingen keine solchen Institutionen, wie Verfassungen, Gesetze oder Parlamente. Niemals werden wirklich freie Völker ein Bedürfniss empfinden können, ihre freie Entwickelung durch gesetzliche Zwangsjacken und Fanggruben hemmen zu wollen. Die Entscheidung von Fall zu Fall, und zwar unter allseitiger persönlicher Betheiligung Derer, welche im öffentlichen Interesse etwas ins Werk setzen wollen, wird sich unter freien Menschen ganz von selbst verstehen. Man wird sich seiner Vorfahren, die derart versklavt waren, dass sie glaubten, es werde die Menschheit nie ohne Vormünder, Repräsentanten und Autoritäten, beengende Satzungen und Leitseile existiren können, – geradezu schämen.

Andere Einrichtungen, welche mit der Staatlerei aufs Engste verwachsen sind, wie: Militarismus, Pfaffenthum und dergleichen, brauchen wir wohl nicht erst als entbehrlich zu kennzeichnen. Der Massenmord und dessen Träger aller Art – die Gurgelabschneider und die Hirnerweicher – stehen und fallen mit der jetzigen Periode sozialer Ordnungslosigkeit und Tyrannei.

Die künftige Gesellschaft kennt nur noch ökonomische, erziehliche, wissenschaftliche – kurz, solche Institutionen, welche sich dazu eignen, den Menschen – Allen, wie Jedem – die Daseinsschwierigkeiten so viel wie möglich zu verringern und den Lebensgenuss zu erhöhen. Hundert- und tausendfältig in einander geschlungen – wie es die Zweckmässigkeitsgründe gestalten werden – mögen diese mannigfaltigen organischen Gebilde ein harmonisch ineinander greifendes Räderwerk darstellen, aber vergeblich wird man treibende Zentralkräfte und geschobene Nullheiten suchen; es wird vielmehr ein gleiches Verhältniss existiren, wie im Weltall, wo in dem kleinsten Partikelchen der Materie die nämlichen Prinzipien der Kräfte vorwalten, welche den Gesammtmechanismus des Universums bewegen. Das – und nichts Anderes – wird der vielgefürchtete, verlästerte Anarchismus sein.

Hört ein Staatsfanatiker, dass Unsereiner einen Gesellschaftszustand erstrebt, in welchem der Staat zu den überwundenen Sachen gehört, so heult er zähneklappernd, als habe ihm Jemand das Ende aller Dinge in Aussicht gestellt.

Es sieht das gerade so aus, als ob mit der Abschaffung des Staates die Menschen in alle Winde zerstieben müssten, oder als ob durch das Aufhören der Staatlerei alle naturgemässen und kulturhistorisch gewordenen Organisationen, welche in einer entwickelten Technik, einem netzartig ausgebreiteten Verkehrswesen und dem kommunalen Zusammenwohnen gegeben sind, hinfällig würden.

Man braucht aber wenig Scharfsinn dazu, um auszufinden, dass diese Einrichtungen nicht an das Sein und Nichtsein eines Staates gebunden sind, sondern lediglich in ihrem Fortbestande und ihrer Weiterentwickelung von den praktischen Anforderungen, welche die Menschen an sie stellen, abhängen. Je mehr sie denselben entsprechen, desto entschiedener werden sie festgehalten, resp. fortgebildet werden. Denn man muss sich nicht einbilden, dass die Menschen in dem Augenblicke, wo sie sich vom staatlichen Zuchtmeister emanzipiren und für mündig erklären, den Verstand verlieren und lauter dumme Streiche gegen ihr eigenes Wohlergehen in Szene setzen.

Nun gut – heute schon steht fest, dass die Industrie und Landwirthschaft desto leistungsfähiger sind, je grossartiger sie betrieben werden; mithin liegt es auf der Hand, dass sich die Arbeitskräfte der einzelnen Produktionszweige in der künftigen Gesellschaft möglichst einheitlich organisiren werden.

Möglichst einheitlich – das ist nicht gleichbedeutend mit ”stramm zentralistisch“. Bei unserer Voraussetzung, nach welcher solche Organisationen nicht von oben herab oder von einem Zentrum sozusagen erpresst werden können, sondern auf Grund der augenscheinlichen Zweckmäßigkeit sich von allen Seiten gleichmäßig und frei gestalten müssen, ist das föderalistische Prinzip förmlich als selbstverständlich gegeben. Große, wie kleine Abteilungen (Gruppen) eines Produktionszweiges können natürlich ihre inneren Verhältnisse ganz nach ihrer speziellen Neigung regeln; es ist da durchaus keine Schablone nötig. Da arbeitet man vielleicht nur Vormittags, dort nur Nachmittags; in einer dritten Abteilung zieht man es vor, jeden zweiten Tag Vor- und Nachmittags zu arbeiten, dafür aber jedem Arbeitstage einen Ruhetag folgen zu lassen. In der einen Gruppe führt man gleichmäßige Arbeitszeit und gleichmäßigen Anteil am Ertrag der Tätigkeit der ganzen Gruppe ein; andere Gruppen überlassen es ihren einzelnen Mitgliedern, bald mehr, bald weniger tätig zu sein und dementsprechend beim Verteilen des Ertrages gehalten zu werden. In manchen Gruppen wollen vielleicht Alle, die dazu gehören, mehr leisten, als in anderen Gruppen üblich ist, und dafür auch desto reichlicher genießen, während auch der umgekehrte Fall denkbar ist: Verzicht auf einen Teil der durchschnittlich erreichbaren materiellen Genüsse und dafür desto kürzere Arbeitszeit, resp. desto mehr Gelegenheit zur Ergehung im geistigen Genusse. Unter solchen Verhältnissen ist die Möglichkeit gegeben, dass sich die Neigungen der Einzelnen in ihren verschiedensten Spielarten Berücksichtigung verschaffen, ohne dass der allgemeine Zweck dadurch beeinträchtigt würde. Jeder sucht sich eine solche Gruppierung von Individuen aus, welche in ihren Neigungen den seinigen am nächsten stehen. ändert sich seine Neigung, so mag er entsprechend seine örtliche Stellung mit einem Andern vertauschen. Das ist eben das Großartige und Naturgemäße beim föderalistischen System: dass es der individuellen Freiheit den weitesten Spielraum gewährt, aber gleichzeitig auch ein ordnendes Band um alle Elemente schlingt, welche im Großen und Ganzen den gleichen Zwecken dienen.