Teil 1 findet ihr hier
Eine zentralistische Organisation hingegen ist stets verknüpft mit einem starren Kasernenwesen. Das menschliche Individuum giebt sich da nicht mehr freiwillig hin, nein, es geht in dem Organismus völlig unter. Konsequent durchgeführter Zentralismus ist Diktatur einer persönlichen Spitze über die Masse – Monarchismus – Tyrannei! – Konsequent durchgeführter Föderalismus ist wirkliche, d. h. gleichheitliche Freiheit Aller, wie der Einzelnen – ist Herrschaftslosigkeit – Anarchismus!
Zentralismus ist in letzter Instanz Verknöcherung, Kastenthum, Chineserei. Föderalismus ist Ideenwettkampf, elastischer Entwickelungsschwung, rastloser Kulturfortschritt. Anarchismus ist die Harmonie der Menschheit!
Einige Anarchisten französischer Schule gehen in dieser Beziehung weiter und sagen, es werde in der zukünftigen Gesellschaft jegliche systematische Gliederung und insbesondere jede auch die freiwillig eingegangene Arbeitspflicht fehlen; ebenso könne da von einem Einkommen der Individuen je nach deren Arbeitsleistung nicht die Rede sein, weil ein solches Verhältniss nicht die volle und ganze individuelle Freiheit darstelle. Sie sagen, alle vorhandenen Dinge müssen da einfach Jedem zur unbeschränkten Verfügung stehen und Jeder werde dann schon ganz von selbst das Seinige zur Genussmittel-Erzeugung etc. beitragen. Diese Erklärung ist allerdings ungemein einfach, dürfte jedoch in weiteren Kreisen nur sehr schwach einleuchten und kann mithin als Agitations-Faktor keine besonders grosse überzeugende Kraft besitzen.
Wer kann überhaupt wissen, wie sich die Dinge äussersten Falles gestalten. Wir geben uns vorläufig damit zufrieden, solche Verhältnisse für die Zukunft zu muthmassen – denn über die Muthmassung hinaus geht natürlich Alles, was in dieser Hinsicht gesagt werden kann, überhaupt nicht, – welche die phantasiefreie Logik der Thatsachen nahe legt.
Jene Folgerung, wornach die Menschen der Zukunft ohne jede eingegangene Verpflichtung thätig sein werden, geht von der Annahme aus, dass alle Menschen eine angeborene Arbeitslust haben. Die Arbeit ist aber jedenfalls nur ein nothwendiges Uebel, eine unangenehme Sache, welche niemals ihrer selbst willen, sondern nur ihres Zweckes halber, nämlich deshalb betrieben wird, weil ohne Arbeit Genussmittel nicht hergestellt werden können. Eine Arbeitslust gibt es daher nicht, wenn auch manche Arbeit unter dem Einfluss der Gewohnheit etc. mehr oder weniger gern verrichtet und förmlich wie eine Spielerei betrieben werden mag.
Im Uebrigen ist jedenfalls dieser Punkt viel zu spekulativer Natur, als dass derselbe als Zankapfel angesehen werden sollte. Wir erwähnten denselben nur, um in dieser Beziehung die von einander abweichenden Schulmeinungen zu registriren.
Gleichzeitig bemerken wir von vornherein, dass Alles, was wir im Nachstehenden zu sagen haben, keineswegs positive Vorschläge hinsichtlich der künftigen Gesellschaft vorstellen soll, wie vielfach behauptet worden ist, sondern, dass wir hier nur Muthmassungs-Betrachtungen anstellen, um die Möglichkeit einer freien Gesellschaft, gleichsam per Anschauungs- und Exemplifikations-Unterricht zu illustriren.
Da die früher erwähnten Organisationen nicht blos Menschen repräsentiren, sondern auch Sachen – Grund und Boden, Fabriken, Werkzeuge, Rohstoffe und fertige Verbrauchsartikel – so frägt es sich: Wem gehören diese Dinge?
Was die fertigen Sachen anbetrifft, so gehören sie vermuthlich zunächst derjenigen Organisation, aus deren Thätigkeit sie hervorgegangen sind. Was dagegen die Produktionsmittel anbelangt, so sind sie ebenso wahrscheinlich Eigenthum der ganzen Gesellschaft, bleiben jedoch den einzelnen Produktiv-Organisationen, deren Zweck sie dienen sollen, so lange frei überlassen, als diese nicht den Versuch machen, mittelst derselben andere Organisationen oder die Gesellschaft als solche zu schädigen – etwa indem sie sich monopolistisch gebärden und die ausser ihnen stehenden Organisationen oder das Volk überhaupt zu brandschatzen suchen.
Wo aber bleibt dann die geeignete Macht, solchen Frevel angemessen zu ahnden, nachdem doch jegliche Staatsgewalt beseitigt worden?
Diese Macht liegt einfach in den Händen der Konsumenten, welchen es in ihrer Gesammtheit gar nicht einfallen kann, sich von einer verhältnissmässig kleinen Rotte über das Ohr hauen zu lassen.
Aber betrügen denn nicht heutzutage auch wenige Monopolisten die ganze breite Masse des konsumirenden Publikums, ohne dass dasselbe dagegen etwas thun kann?
Gewiss ist das heute der Fall; aber gerade weil es eine Staatsgewalt giebt, welche die Monopolisten und ähnliche Gauner in ihren räuberischen Vorrechten schützt und jede zweckdienliche und rasch wirkende Massregel, die das Volk dagegen in’s Werk setzen könnte, zu einem Verbrechen stempelt. Manipulationen, die auf die Uebervortheilung und Brandschatzung hinauslaufen, können nur dann von irgend welchen Bruchtheilen der Gesammtheit gegen diese in Anwendung gebracht werden, wenn die betreffenden Betrüger eine herrschende Klasse bilden und so im Stande sind, die Resultate ihres Raubes durch staatliche Gewalt vor jedem Angriff seitens der Beraubten zu schützen.
In einer freien (staatslosen) Gesellschaft scheitern solche Raubversuche schon beim ersten Auftauchen einer diesbezüglichen böswilligen Absicht an dem allgemeinen Unwillen, welcher nöthigenfalls sich zu einem thatkräftigen Handeln zu steigern vermöchte.
Zu solchen Einwürfen gelangt man überhaupt nur, wenn man die Eigenschaften, welche die naturnothwendigen Folgen der heutigen Gesellschaft sind, den Menschen der künftigen (freien) Gesellschaft willkürlich andichtet und dabei vergisst, dass die Karakter-Eigenthümlichkeiten der heutigen Menschen mit dem jetzigen Systeme stehen und fallen müssen.
Wenn einmal die Gesellschaft Grund und Boden und alle zur Produktion von Waaren nöthigen Dinge prinzipiell als gemeinsames Eigenthum betrachtet, so ist der Fall auch ausgeschlossen, dass sich die Gesammtheit von einzelnen ihrer Theile betrügen lässt.
Freilich, wenn die Gesellschaft der Zukunft so dumm sein sollte, sich nach dem Muster der gegenwärtigen zentralistisch-staatlich zu organisiren, dann wäre es allerdings möglich, dass z. B. die jeweilige herrschende Majorität die Minorität betröge, vielleicht gar zur Zwangsarbeit presste und selber faullenzte; oder auch, dass eine raffinirt ersonnene und fest gegliederte Beamten-Hirarchie, bestehend aus zahllosen Drohnen, die Massen – wie im Inka-Staate der alten Peruaner – ausbeutete und tyrannisirte.
Aber, wie gesagt, einen solchen Missgriff trauen wir den Menschen der nachrevolutionären Epoche nicht zu. Dieselben werden, gewitzigt durch die unendlich bitteren Lehren der Geschichte, nicht ”neuen Wein in alte Schläuche giessen“; sie werden erkennen, dass sich Einrichtungen, welche die Knechtschaft erzeugt und erhalten haben, nicht für die Freiheit schicken; sie werden nach Zertrümmerung des altherkömmlichen teuflischen Zentralismus sich dem allbelebenden Föderalismus hinsichtlich ihrer Organisationen zuwenden.
Stehend auf dem Boden gemeinsamen Kapitals und föderalistisch organisirt, wird die Menschheit die Ausbeutung der Einen durch die Anderen, alles Herrschen und jede Knechtschaft für immer verbannt haben.
Die Ausbeutung der Einen durch die Anderen findet heutzutage nicht blos auf dem Gebiete der Produktion statt, sondern mehr noch auf dem der Waarenvertheilung. Die fertigen Produkte wandern durch die Hände zahlloser Schacherer, von denen kein Einziger denselben irgend einen Mehrwerth zusetzt, die aber nur zu häufig Fälschungen, d. h. Verschlechterungen damit vornehmen, und die dennoch die Preise der Gebrauchsgegenstände derart in die Höhe treiben, dass deren nomineller Werth (in Geld ausgedrückt) in demselben Augenblicke, wo sie den eigentlichen Konsumenten zufliessen, verglichen mit ihren Herstellungskosten, verdoppelt, ja nicht selten verzehnfacht erscheinen muss.
In der freien Gesellschaft kann von einer solchen Räuberei keine Rede mehr sein. Die Produzenten, welche ja auch sammt und sonders Konsumenten sind, tauschen die durch sie erzeugten Waaren ohne das Dazwischentreten des Handels und einer damit verknüpften Profitmacherei aus.
Hierzu ist allerdings vermuthlich ein Vermittelungs-Institut nöthig.
”Heiliger Staat hilf!“ ruft uns ironisch ein vom Herkommensteufel Besessener zu. Gemach! Auch hierzu benöthigt man des Mandarinenthums nimmermehr. Denn so sehr es auf der Hand liegt, dass es höchst unpraktisch wäre, wenn sich jeder einzelne Konsument an die verschiedenartigsten Produktionsorganisationen wenden würde, um von denselben seine mannigfaltigen Bedürfnissgegenstände zu beziehen, so wenig könnte es praktisch erscheinen, wenn da sozusagen ein Staatskrämer den Vermittler spielen wollte.
Dieselben Menschen, denen die Zweckmässigkeit lehrt, wie sie sich zu organisiren haben, um die Waarenerzeugung so vortheilhaft wie möglich zu betreiben, ohne ihre individuelle Freiheit zu gefährden – dieselben Menschen können auch den Waarenaustausch nicht anders, als auf dem Wege freiwillig gebildeter Konsumtionsorganisationen bewerkstelligen wollen.
Der Zusammenschluss einer Anzahl von Menschen zum Zwecke des gemeinsamen Waarenbezuges lässt sieh in den verschiedensten Formen denken. Höchst wahrscheinlich ist es aber, dass die betreffenden Verbände mehr oder weniger begrenzt sind. Während sich bei manchen produktiven Organisationen eine weitgedehnte Gliederung über das ganze Gebiet der freien Gesellschaft hin als zweckdienlich, ja vielleicht als unerlässlich erweisen dürfte, ist auf dem Gebiete des Waarenverbrauches kaum eine mehr als kommunale Organisation nöthig.
Wenn es den Bewohnern eines Ortes beliebt, so werden sie sich etwa gleich als ganze Kommune die Regelung des Waarenvertriebes angelegen sein lassen. Sie werden dann in diesem Falle kommunale Waarenmagazine errichten, denen jeder Einzelne seinen Bedarf entnehmen könnte. Andererseits wird die Konsumtionsgemeinde, wie man eine solche Organisation füglich nennen möchte, sich mit ihren Bestellungen direkt an die Verbände der verschiedenen Produktions-Organisationen wenden.
Ist eine solch’ ausgedehnte Organisation des Genussmittel-Vertriebes aber da und dort nicht nach dem Geschmacke Aller, so mögen sie sich in grösseren oder kleineren Konsumvereinen mit oder ohne kommunale Föderation konstituiren. Es lässt sich in dieser Beziehung nichts vorher sagen, nach welcher Richtung hin sich diese Dinge zunächst Bahn brechen. In erster Linie kommt dabei eben die Neigung Derer in Betracht, welche in der Lage sind, solche Organisationen zu schaffen. In zweiter Linie wird höchst wahrscheinlich die Praxis jenes Systems, welches sich als das zweckmässigste erweist, sich ganz von selbst mehr und mehr Bahn brechen.
Bei dem Aufbau der Dinge nach freier Entschliessung der Betheiligten ergiebt sich eben unter Anderem auch der Vortheil, dass eine Manigfaltigkeit von Erscheinungen gleichzeitig zur Geltung kommen kann, was eine vergleichende Beobachtung zulässt und so ohne jeden Zwang das Beste an sich über das weniger Vollendete durch den überzeugenden Einfluss der Bewährtheit zum Durchbruch und zu allgemeiner Anerkennung bringt; wo hingegen die Dekretirung der Dinge durch Majoritäts- oder sonstige Gewalten von vornherein allen durch sie zu Stande gekommenen Einrichtungen den Stempel der Einseitigkeit aufdrückt und einen hochgradig konservativen Karakter verleiht.
Vielleicht noch längere Zeit hindurch begnügt sich gar mancher Mensch mit geringem Komfort, nur um ein sogenanntes Familienglück zu geniessen. Die anarchistische Ordnung stellt ihm in dieser Beziehung wahrlich keine Hindernisse in den Weg. Dieselbe hält aber auch Denen die Bahn frei, welche sich von dem familiären Schneckenhausleben zu emanzipiren gewillt sind, und die lieber in Gemeinschaft mit einer grösseren Anzahl Gleichgesinnter in Palästen wohnen, gemeinsam Tafel halten und kurzum durch die Oekonomie der Organisation sich so luxuriöse Einrichtungen schaffen können, welche die Verzettelung der Dinge und die Verschwenduug von häuslicher Arbeit, wie sie bei familiärer Verkapselung unabweisbar sind, nimmermehr zulassen.
Die kitzlichste Angelegenheit hinsichtlich des Waarenaustausches in einer freien Gesellschaft scheint die Werthschätzung der einzelnen Güterarten im Vergleich mit einander zu sein. Und in der That existiren in dieser Beziehung ungemein weit von einander gehende Meinungen unter den Theoretikern der Gesellschafts-Philosophie.
Eine anarchistische Schule älteren Schlages ist mit dieser Sache rasch fertig, indem sie das Walten der freien Konkurrenz gelten lassen will. Diesen Standpunkt, der einen stark nach Manchesterei und überhaupt bürgerlichen Denkweise riechenden Zopf hervortreten lässt, vermögen wir nicht zu theilen. Er passt auch ganz und gar nicht in den Rahmen des kommunistischen Anarchismus.