Der kommunistische Anarchismus (2)

zum ersten Teil geht es hier.

Unter Sozialismus im weiteren Sinne des Wortes versteht man alle jene Lehren und Strebungen, welche sich mit der menschlichen Gesellschaft befassen; im engeren Sinne des Wortes bedeutet Sozialismus ein System der Vergesellschaftung der Menschen. Über die menschliche Gesellschaft denken jetzt aber gar viele Leute nach, und auch in Gesellschafts“Verbesserung“ wird allgemein gemacht. Es gibt königliche, aristokratische, christliche, überhaupt alle erdenklichen ‚Sozialisten‘. Der ‚alte Lehmann‘ floß bekanntlich bei jeder Gelegenheit über von sozialen ‚Reformbestrebungen‘, wie er sie meinte. Bismarck nannte sich nicht minder zuweilen ‚Sozialist‘, und der Pfaffe Stöcker hat ebenfalls schon verschiedene Rezepte zur Lösung der sozialen Frage aufgezeigt. Das ist nachgerade eine sehr gemischte Gesellschaft geworden. Deshalb haben auch die meisten Sozialisten ernsterer Art längst das Bedürfnis empfunden, sich eine Bezeichnung beizulegen, welche hinsichtlich der Grundlage der von ihnen erstrebten zukünftigen Gesellschaft keine Mißdeutungen mehr zuläßt. Sie nennen sich bekanntlich Kommunisten.

Damit deuten sie an, daß ihr Strebeziel die Gütergemeinschaft sei, der gemeinsame Besitz des Grund und Bodens mit allem, was drum und dran ist. Sie werden bei dieser ihrer Forderung nicht geleitet von frommen Wünschen oder willkürlich ersonnenen spekulativen Plänen, sondern von der Erkenntnis der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnisse, deren Konsequenzen förmlich zu einer Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne des Kommunismus herausfordern.

Die augenblicklich herrschende Klasse, die Bourgeoisie, organisiert willkürlich das ganze Gütererzeugungs- und Verkehrswesen. Die einzelnen Kapitalisten verdrängen die selbständigen Handwerker und werden ihrerseits wiederum von Aktiengesellschaften aufgesaugt. In weiterer Folge entstehen Monopole, Trusts, Pools usw., und man spricht sogar schon von einer wirtschaftlichen Generalisierung nicht nur einzelner Gewerbszweige, sondern ganzer Gruppen von Wirtschaftsunternehmungen. Gleichen Schritt mit dieser Entwicklung der Dinge, welche doch an und für sich den Zweck haben soll, alle erdenklichen Gebrauchsgegenstände bei immer geringfügigerer Anstrengung der menschlichen Arbeitskräfte in schwellendem Überfluß zu erzeugen, hält die Verelendigung der Volksmassen. Solch ein Zustand, der, wenn er noch lange andauern würde, den physischen und moralischen Untergang des Menschengeschlechts inmitten einer Welt von Reichtümern, also den hellen Wahnsinn bedeutete, fordert, wie gesagt, ganz von selbst zu einer totalen Umgestaltung der Gesellschaft, zur Errichtung eines neuen sozialen Systems heraus. Und da man doch füglich nicht auf die Kleinbürgerei zurückgreifen kann, weil die Vorteile der Großproduktion und Bestätigung der organisierten Arbeit überhaupt für jedermann viel zu auffällig sind, als daß sie auch nur einen Augenblick mißkannt oder unterschätzt werden könnte, so bleibt offenbar nichts anderes übrig, als daß all dasjenige, was zur Gütererzeugung und zur Befriedigung menschlicher Bedürfhisse notwendig ist, zum Gemeingut aller gemacht, als daß – mit anderen Worten – der Kommunismus proklamiert wird.

Wenn sich alle jene, die mit dem Bestehenden unzufrieden sind, und welche einen Zustand erstreben, bei welchem alle gleich und frei und mithin glücklich sein könnten, in diesen Stücken klar und einig sind wie kämen da gerade die Anarchisten dazu, diejenigen, welche bisher bei allen Freiheitskämpfen im Vordertreffen standen, in diesen Beziehungen eine gegensätzliche Stellung einzunehmen? Nur Bosheit oder Unverstand können ihnen solches anzudichten suchen.

Die Anarchisten sind Sozialisten, indem sie eine Gesellschaftsverbesserung erstreben; sie sind Kommunisten, indem sie überzeugt sind, daß eine solche Umgestaltung nur in der Etablierung allgemeiner Gütergemeinschaft gipfeln kann. Weshalb aber begnügen sie sich nicht damit, die Sozialisten oder Kommunisten zu nennen? Weil sie nicht verwechselt sein wollen mit solchen, die Mißbrauch mit diesen Worten treiben, und weil sie dafür halten, daß auch das System des Kommunismus ein unvollkommenes wäre, wenn dasselbe nicht getragen würde vom Geiste der Anarchie. Sie können umsoweniger darauf verzichten, ihre Ideale auch in ihrer Beziehung anzudeuten, als es merkwürdigerweise zahlreiche (wirkliche oder angebliche) Kommunisten gibt, welche sich nicht entblöden, die zukünftige Gesellschaft sich als ‚Volksstaat‘, ‚Zukunftsstaat‘ usw vorzustellen und für die kommunistische Gesellschaft – gerade, als wollten sie damit jedem wirklichen Freiheitsfreunde einen abschreckenden Dämpfer aufsetzen – eine Regiererei ohne gleichen, den reinsten Mandarinismus, Hundertausende von Gesetzen und Verordnungen, kurz eine Allerwelts-Vormundschaft einerseits und allgemeine Nullenhaftigkeit andererseits zu prophezeien.

Hiervon wollen die konsequenten Sozialisten und Kommunisten nichts wissen. Sie machen darauf aufmerksam, daß der Staat nie etwas anderes war, noch ist, als ein Zuchtruten- und Unterjochungsinstitut, dessen sich die jeweilig herrschende Klasse bediente, ihre Privilegien zu schützen und die Volksmassen in der Knechtschaft zu erhalten, wie jeder sich überzeugen kann, der nur einige Augenblicke über die einzelnen Staatszwecke nachdenkt.

Was soll nun ein solches Tyrannisierungs-Instrument in einer freien Gesellschaft für einen Sinn haben? Welche Privilegien sollen da noch beschützt, weshalb sollen da irgend welche Volkskreise unterjocht werden? Die Etablierung des Kommunismus ist doch nur denkbar, wenn die heutige Sklaverei aufgehoben wird. Soll da etwa eine neue Knechtschaft eingeführt werden? Wenn nicht, so hat auch eine Herrschaft keinen Sinn, denn eine Herrschaft, die niemanden beherrscht, d. h. knechtet, ist ein Messer ohne Klinge, an welchem das Heft fehlt.

Ist aber jegliche Herrschaft beim Kommunismus abwesend, existiert da völlige Freiheit und Gleichheit, so waltet eben die Anarchie (Herrschaftslosigkeit). Mit dem Staat und der Regierung fallen aber auch die Gesetze hin. Die Gesetze in der kommunistischen Gesellschaft, nimmt man vielleicht an, werden nur allgemeine Humanitäts- und Ordnungsgrundsätze enthalten, die jeder gern befolgt. In diesem Falle bediente man sich einer falschen Bezeichnung für die Prinzipien eines vernünftigen und edelsinnigen Handelns, die überhaupt unmöglich paragraphiert werden könnten. Sobald man jedoch unter Gesetzen irgend etwas zwingendes versteht, kann man sich dieselben Zwangs-Apparate vorstellen, und vor unseren Augen tauchen Polizisten, Richter, Kerkermeister und Henker auf- kurz die alten Büttel in neuer Uniform. Wer hat Lust, solches zu erstreben?

Wenn die Anarchisten den Staat als solchen und nicht nur diesen oder jenen Staat für die kommunistische Gesellschaft als rein außer dem Bereich der Möglichkeit und Notwendigkeit liegend ansehen, so schwebt ihnen dabei nicht bloß vor Augen, daß mit den Ursachen der Laster und Verbrechen, wie sie im heutigen Gesellschaftssystem gegeben sind, auch die Wirkungen fortfallen müssen, derenthalben vor allem die Staatsmaschine bisher in Bewegung erhalten wurde, sondern auch die Überzeugung, daß im Zeitalter des Kommunismus allen Menschen hinlänglich Zeit und Gelegenheit gegeben sein wird, sich gründlich auszubilden und zu veredeln, so daß jedem seinem Tun und Lassen von einer gesunden Vernunft und nicht von starren Buchstaben-Satzungen und Machtgeboten geleitet wird.

Was aber die wirtschaftlichen Bestätigungen der Kommunisten in einer freien Gesellschaft anlangt, so brauchen sie dazu weder eine Regierung, noch könnten solche das in dieser Hinsicht Nötige besorgen. Die sich geltend machenden allgemeinen Bedürfhisse, die Nützlichkeit, die Notwendigkeit, die Erfährung und dgl. werden stärkere Triebfedern sein, allseitig das Richtige bei dem diesbezüglichen Handeln zu suchen und zu finden, als irgend welche Zwangsgesetze. Die mitten im wirtschaftlichen Leben Befindlichen werden es besser verstehen, was und wie gearbeitet werden muß, als eine über dem ganzen sozialen Getriebe schwebende Bürokratie.

Wenn man sich überhaupt vorstellt, daß im Zeitalter des Kommunismus die Menschen nur durch eine Art Zwangssystem angehalten werden können, das Rechte zu tun und das Schlechte zu lassen, und dass die Masse des Volkes für ewige Zeiten durch eine ausgesuchte Schar von Pfiffikussen bemuttert und bevormundet werden müsse, wenn nicht alles aus Rand und Band gehen soll, dann allerdings – ja dann ist es besser, man verzweifelt an der Menschheit und schlägt sich allen und jeden Kommunismus gänzlich aus dem Kopfe.

So aber liegt die Sache nicht. Man kommt überhaupt nur zu solchen Vermutungen, wenn man die Menschen von heute mit denen in der Zukunft identifiziert, was doch ein ganz einfältiges Beginnen ist. Wir brauchen nicht einmal zu reden von späteren Generationen. Selbst jene Menschen, welche auf dem Boden der heutigen Gesellschaft aufgewachsen sind, werden nach völliger Umgestaltung der sozialen Verhältnisse wie verwandelt sein. Außerordentliche Ereignisse haben noch stets auf die dabei aktiv oder passiv beteiligten Menschen einen modifizierenden Einfluß ausgeübt. Man nehme den Menschen das Joch der Knechtschaft ab und versetze sie in die Sphäre der Freiheit, und sie werden nicht lange dazu brauchen, um zu lernen, sich brüderlich aufzuführen. Der Mensch ist ja an und für sich ein ganz gutmütiges Wesen, nur als Eigentumsegoist, als Glied einer Gesellschaft, wo jeder für sich und niemand für alle einsteht, konnte er zu dem werden, was er heute ist.