Den größten Stein des Anstoßes der anarchistischen Doktrin bildet bei den nicht-anarchistischen Sozialisten der ‚freie Vertrag‘. Weil die Anarchisten der Ansicht sind, daß in einer freien Gesellschaft die Menschen ihre Beziehungen zu einander auf Grund unauferzwungener Vereinbarungen regeln werden, glauben ihre Widersacher darob Ursache zum Lachein zu haben. Die Letzteren stellen sich aber damit nur auf den Standpunkt sozialer Gewalttäterei und sind mithin von irgend einem freiheitlichen System so weit wie irgend denkbar entfernt. Sie können höchstens behaupten, das ihr Zwangs- und Zuchtsystem auf allen gleichmäßig laste und mithin von keinem besonders empfindlich verspürt werden dürfte; allein das ist eine sinnlose Phraseologie, denn ein allgemeiner und auf Gegenseitigkeit beruhender Zwang hebt sich auf und ist mithin null und nichtig. Ist wirklich etwas derartiges unseren missverständnisvollen Freunden vor Augen schwebend, so erstreben sie, genau wie wir, die Zwanglosigkeit, und sie müssen mit uns schließlich im ‚freien Vertrag‘ als gesellschaftlichem Regulator einen Ruhepunkt finden. Wenn nicht, so bleibt der Vorwurf auf ihnen lasten, daß sie höchstens dem bestehenden System politischer Herrscherei und sozialer Vormundschaft der einen über die anderen eine milde Form zu geben bemüht seien.
Im Übrigen braucht man sich gar nicht erst in das Bereich einer noch unbekannten neuen Welt zu versetzen – weder auf den Mars, noch in ein sonstiges Utopia – um sich zu veranschaulichen, wie freie Verträge wirken.
Da ist z.B. der Weltpostverein. Die einzelnen Postorganisationen treten demselben ganz nach freiem Ermessen bei und können auch wieder ihren Rücktritt bewerkstelligen. Diese Kontrahenten vereinbaren gegenseitig, welche Dienste sie einander leisten wollen, um einen möglichst praktischen und wohlfeilen Postverkehr zu erzielen. Es gibt da keine internationale Rechtsinstanz, bei welcher ein Vertragsbrüchiger eingeklagt oder exekutorisch zur Pflichterfüllung gepreßt werden könnte. Dennoch wird da der ‚freie Vertrag‘ eingehalten – einfach deshalb, weil jeder Vertragsbruch mit einer Selbstschädigung verknüpft wäre, und weil es mithin das Interesse einer jeden der vertragschließenden Parteien erheischt, nicht kontraktbrüchig zu werden. Stellen sich doch Unregelmäßigkeiten oder sonstige unvorhergesehene Übelstände ein, so finden Konferenzen statt, und es werden die nötigen Verbesserungen frei vereinbart.
Diese Institution, welche allein schon ein Musterbild für die künftigen freien Gruppierungen der Menschen zu den verschiedenartigsten Lebenszwecken abzugeben geeignet ist, steht indessen in dieser Beziehung nicht isoliert da. Die Trust- und Poolbildungen kommen z.B. zwischen Leuten zustande, welche im allgemeinen mit verteufelt wenig Gemeinsinn ausgestattet sind; sie sind fast in allen Ländern sogar gesetzwidriger Natur, und es können mithin die einzelnen Kontrahenten, falls sie die eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllen sollten, rechtlich nicht dazu gepreßt werden. Alles, was da im Sinne des geschlossenen Vertrages geschieht, passiert nur unter dem Sporn der damit verknüpften Vorteilhaftigkeit.
Überhaupt gibt es ja hunderterlei Dinge, die heutzutage schon auf Grund freier Verträge, hinter denen keine Gesetze und keine Regierungen stehen, welche deren Einhaltung erzwingen könnten, ins Werk gesetzt und durchgeführt werden. Gesang-, Turn-, Schützen-, Bildungs- und politische Vereine, Parteiorganisationen, Verbände zur Hebung von Kunst und Wissenschaft etc. sind überall vorhanden, und oftmals schließen die betreffenden lokalen Verbindungen solcher Art untereinander freie Verträge ab, denen zufolge hunderte, ja tausende von solchen Korporationen national und sogar international behufs Erreichung gemeinsamer Zwecke zusammen wirken. Nirgends macht sich aber ein anderer als ein rein moralischer Zwang geltend, um die Einhaltung der fraglichen Verträge herbeizuführen. Und absurd würde man es finden, wen jemand behaupten wollte, daß diese ganze Maschinerie ohne Einmischung einer höheren Gewalt, einer staatlichen oder sonstigen gesetzlichen Autorität nicht zu arbeiten vermöchte. Im Gegenteil hat es sich von jeher und überall gezeigt, daß jede Einmischung in diese Dinge, welche sich da oder dort die Staatsgewalt vermittelst ihrer Gesetzgebung und Exekutive anmaßte, nur störend und hemmend gewirkt hat, und allenthalben, wo derartiges im Gange ist, agitieren die davon betroffenen Organisationen ganz energisch für Abschaffung der staatlichen Bevormundung.
Wenn sich nun aber solches schon in der heutigen Gesellschaft zeigt, in einer Welt voll Egoisten, um wie viel leichter muß sich das Organisationswesen zu allen erdenklichen menschlichen Zwecken auf Grund freier Vereinbarungen in einer Gesellschaft regeln, wie wir sie anstreben, in einer Gesellschaft, die auf Gütergemeinschaft basiert ist, und bei welcher mithin alle jene erbärmlichen Eigenschaften in Wegfall kommen, die mit der Institution des Privateigentums aufs engste verknüpft sind. In einer Gesellschaft von Freien und Gleichen kann es nichts weiter geben als den freien Vertrag; denn ein zwangsweises Zusammenwirken verstieße ja geradezu gegen die Grundbegriffe von Freiheit und Gleichheit.
Kurzsichtige Leute wenden mitunter ein, in wirtschaftlicher Beziehung walte ja heutzutage auch eine gewisse Freiheit, indem sich keine Staatsgewalt in das Geschäftsgebaren der Produzenten mische, man könnte aber doch bemerken, zu welch heillosen Verhältnissen diese Regellosigkeit geführt habe. Wir greifen dieses Argument unserer Widersacher auf und belehren die letzteren eines Besseren. Wenn nämlich das freie Walten auf ökonomischem Gebiete innerhalb der heutigen Gesellschaft dahin geführt hat, daß wir jetzt vor einer sozialen Frage stehen, die kategorisch auf ihre Lösung dringt, so hat das mit dem wirtschaftlichen Gehen- und Machenlassen an und für sich nichts zu tun, sondern einzig und alleine mit dem Institut des Privateigentums, hinter welchem der Staat als Schutzpatron steht. Das Privateigentum hat es mit sich gebracht, daß die Armen zu Sklaven der Reichen wurden, daß die ersteren von den letzteren einer immer schärferen Ausbeutung unterzogen werden konnten, und daß dieserhalb die Volksmassen immer weniger in die Lage kamen, das von ihnen Erzeugte zu verbrauchen. Würde nicht die Staatsgewalt alles aufbieten, dieses Verhältnis aufrecht zuerhalten – das Volk ließe es sich gewiß nicht lange gefallen. Wir haben es eben da nur scheinbar mit einer ökonomischen Freiheit zu tun, in der Tat liegt die Einmischung des Staates klar zu Tage. Ja, der Staat ist gar nichts anderes als die organisierte Macht der Eigentümer, welche die Habenichtse unter der Botmäßigkeit der ersteren zu halten bestrebt ist. Aus diesem Grunde sind auch die besitzlosen Volksmassen gezwungen die Staatsmaschine zu zertrümmern, wenn sie das Institut des Privateigentums aufheben und die Gütergemeinschaft an dessen Stelle setzen wollen.
Die Gegenwart kennt nur Menschen mit Interessenverschiedenheiten, die Zukunft hingegen, welcher wir zusteuern, kennt nur Menschen mit gleichmäßigen Interessen. Wo solche obwalten, hört die Solidarität auf, eine soziale Tugend zu sein, sie versteht sich geradezu von selbst. Welch ein Grund läge da noch vor, die menschheitlichen Zwecke durch ein System der Unter- und Überordnung, also der Unfreiheit auf der einen und der Überhebung und des Vorrechts auf der anderen Seite, erzwingen zu wollen, statt alle diese Dinge der freien Vereinbarung, wie sie die Notwendigkeit, die Nützlichkeit und das Gemeinwohl, welches in einem solchen Zustande gleichzeitig auch das Wohl jedes Einzelnen bedeutet, provozieren müssen, zu überlassen? Nur derjenige, welcher in die Zukunft blickt und dabei sich von dem Bestehenden nicht gänzlich emanzipieren kann und infolgedessen den künftigen Menschen alle jene schlechten Eigenschaften andichtet, welche dieselben unter dem Einfluß jetzt bestehender Verhältnisse notwendigerweise erlangen mußten, kann zu der Annahme gelangen, daß auch die kommunistische Gesellschaft der Gesetzgeberei, Regiererei, also Staatlerei und Zwängerei nicht entbehren könne. Hält man sich vollends noch vor Augen, daß in einer kommunistischen Gesellschaft jedem nur eine sehr geringe Arbeitslast zufällt, weil kein Arbeitsfähiger sich des Tadels der öffentlichen Meinung – der einzig denkbaren moralischen Gewalt, die wider etwaige Unholde in das Spiel kommen mag – wegen hartnäckiger Verweigerung der Erfüllung allgemeiner Arbeitspflicht aussetzen würde, daß also jedem ungemein viel Zeit und Gelegenheit zur Erweiterung seines Wissens und zur Veredelung seines Charakters zur Disposition steht, so wird man begreifen, daß die Kommunisten der Zukunft vernünftig genug sein werden, um allgemein und von Fall zu Fall auszufinden, was zu tun und was zu lassen ist, ohne daß sie irgend ein staatlicher Weltweiser am Leitseil des Gesetzes von der Wiege bis zum Grabe durch das Leben schleift.