Wer sich überhaupt über das ganze Wesen aller bisherigen Gesetzgeberei bisher noch nicht klar gewesen ist, der sollte sich doch einmal die absolut unbestreitbare Tatsache vor Augen halten, daß jede Generation die Gesetzgeber der ihr vorangegangenen Generation mindestens für verrückt, wenn nicht für schlimmeres gehalten hat. Die Geschichte der Gesetzgeberei darf mit Fug und Recht als die Geschichte des schauderhaftesten Wahnwitzes bezeichnet werden. Oder halten wir etwa die Gesetze wider Hexerei und Ketzerei, die Gesetze gegen alle erdenklichen Dinge, welche seiner Zeit mit raffinierter Grausamkeit bestraft wurden und welche heute für straflos angesehen werden, nicht für Wahnwitz? War es keine Verrücktheit, die Menschen Feuer-, Wasser- usw. Proben machen oder foltern zu lassen, um deren Schuld oder Unschuld auszufinden? Nun wohl! Ein späteres Geschlecht wird die Gesetze unserer Tage mit ihren Galgen, Henkerbeilen, Kerkern und Ketten für nicht minder unsinnig halten, als wir dies gegenüber den Gesetzen vergangener Jahrhunderte als ausgemacht ansehen. Wer objektiv, d. h. ohne Vorurteil und Aberglauben, an das Wesen aller und jeder Legislatur herantritt, der kommt mit dem Kulturhistoriker Buckle zur Überzeugung, daß die besten Gesetze diejenigen waren und sind, vermöge welcher frühere Gesetze abgeschafft wurden.
Und da sollten wir uns noch lange betreffs einer Zukunftsgesetzgebung die Köpfe zerbrechen? Es gehört ein gut Teil Naivität dazu, uns solches zuzumuten.
Was nun noch als Gegenstand des Disputes zwischen uns und unseren Widersachern bleibt, das ist die Frage, ob die verschiedenen (auf Grund freier Verträge zu Stande zu bringenden) Organisationen in der künftigen Gesellschaft ‚zentralistischer oder förderalistischer‘ Natur sein sollen. Wir halten dafür, daß das letztere der Fall sein werde und müsse – nicht weil wir uns um ‚ungelegte Eier‘ bekümmern, sondern weil uns die Erfahrung gelehrt hat, daß der Zentralismus unter allen Umständen früher oder später in einer ungeheuren Vollmachtsanhäufung in wenigen Händen, damit im Mißbrauch der Macht, also in Herrschaft einerseits und Unfreiheit andererseits enden muß. Außerdem sehen wir nicht ein, warum und wieso eine Zentralisation ökonomischer Organisationen oder gar der ganzen menschlichen Gesellschaft an sich nötig oder dienlich sein solle.
Wenn wir annehmen und sogar hoffen, daß die soziale Frage im kommunistischen Sinne schließlich nicht nur in diesem oder jenem Lande, sondern in der ganzen Welt gelöst werden wird, so wird jeder Gedanke an Zentralismus ganz von selbst zur reinsten Monstrosität. Man denke sich eine in Washington tagende Zentralkommission von Generalbäckern, die den Gewerksgenossen von Peking oder Melbourne vorschreibt, in welcher Fasson oder Menge sie Semmeln backen sollen! – Dieses Bild des weiteren auf die verschiedenartigsten Gewerke angewendet, gibt das wird kein Mensch bestreiten können – die schönste Chineserei, welche je ein Mandarin ersonnen hat. Und da die Menschen der Zukunft höchstwahrscheinlich keine Zopfmichel sind, so werden sie auf einen solchen Unsinn nicht verfallen. Sie werden einfach ihre verschiedenartigen Verhältnisse so regeln, wie das die Bedürfnisse und die Notwendigkeiten, dieselben zu befriedigen, mit sich bringen. Praxis und Erfahrung regulieren das alles ganz von selber.
Ein solches Verhältnis nennen wir aber das System der Herrschaftslosigkeit oder Anarchie. Darum, ihr feindlichen Brüder: hinweg mit allen Vorurteilen, mit allem Dogmenglauben! Studiert die anarchistischen Prinzipien und helft mit, dieselben zu verwirklichen. Es lebe die soziale Revolution!
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Die Erörterungen, welche wir hinsichtlich der kommunistischen Anarchisten angestellt haben, sollen keineswegs bezwecken, daß die Kluft, welche zwischen denselben und den mehr nach rechts hinneigenden Arbeiterparteien gähnt, erweitert wird, wie manche vorurteilsvollerweise annehmen mochten, sondern sie sind im Gegenteil der Absicht entsprungen, diesen Riß im Boden der sozialen Revolution zu überbrücken. Um dies zu erzielen, mußten zu allernächst die landläufigen Konfusionen, die über Anarchismus und Kommunismus bisher kursierten, einer entsprechenden Kritik unterzogen und durch klare und objektive Definitionen dieser beiden Begriffe ersetzt werden.
Den Kommunismus stellte man sich gewöhnlich als ein System vor, bei welchem die Individuen in der Gesamtheit völlig aufgehen und mithin gar kein eigenartiges Dasein führen – ein Gedanke, der nur zu sehr geeignet war, nicht nur originellere Charaktere förmlich zurückzuschrecken, sondern selbst ganz gewöhnliche Spießer, welche überhaupt keine Individualität zu verlieren hatten, ins Bockshorn zu jagen.
Umgekehrt wurde dem Anarchismus unterschoben, daß er die Menschen isolieren resp. die ganze menschliche Gesellschaft „auflösen“ würde. Unsere Erörterungen deuteten indessen an, daß das System der Gütergemeinschaft keineswegs die einzelnen Menschen zum bloßen subjektiven Anhängsel der stofflichen Welt degradiere, sondern vielmehr dazu geeignet sein werde, jede einzelne Individualität vollkommen frei zur Geltung zu bringen. Ebenso haben wir auseinandergesetzt, daß und wieso die Anarchie (Herrschaftslosigkeit) das Zusammenwirken mehrerer, vieler oder aller – je nachdem sich das als wünschenswert erweisen mag – zur Erreichung gemeinsamer Zwecke keineswegs ausschließe.
Wir haben die Streitpunkte, welche zwischen den sozialdemokratischen und anarchistischen Kommunisten existieren, auf ihren wahren Wert zurückgeführt, indem wir zeigten, daß die Differenzen großenteils auf Zukunftsspekulationen beruhen, welche in den Bereich der Philosophie gehören … Und um dazutun, wie wenig Ursache selbst diese Sphäre unter denkenden Sozialisten (Sozialdemokraten wie Anarchisten) Anlaß zu größeren Streitigkeiten geben sollte, zergliederten wir die falschen Voraussetzungen, unter welchen es einzig und allein möglich war, daß solche Zwistigkeiten ausbrachen, wie sie nun schon seit vielen Jahren gerade denjenigen Teil der Albeiterbewegung verunzieren, welcher die fortgeschrittensten, intelligentesten und energischen Proletarier umfaßt.
Wir haben denen, welche unter dem Einfluß bürgerlich-liberaler Traditionen noch immer an die Staatsidee – auch im Hinblick auf eine kommunistische Gesellschaft – festhielten, nachgewiesen, daß der Kommunismus zur Durchführung und Aufrechterhaltung seines freiheitlichen Grundprinzips nicht nur keiner Staatsgewalt bedarf, sondern auch, daß eine solche gegenüber dem Kommunismus nur störend und hemmend wirken könne. Ja, wir haben dargetan, daß der Staat („Volksstaat“, „Zukunftsstaat“ usw.), von welchem in kommunistischen Kreisen sozialdemokratischer Art noch häufig die Rede ist, eigentlich gar kein Staat ist, und mit F. Engels kamen wir zu dem Schluss, daß der Staat in der Zukunft neben das Spinnrad und die Streitaxt in das Antiquitätenkabinett verwiesen werden müsse.
Es blieb nach unserer Darlegung höchstens noch die Frage offen, ob die Menschen der Zukunft den Organisationen, die sie zur Erreichung ihrer verschiedenen Lebenszwecke ins Werk setzen dürften, eine zentralistische oder eine föderalistische Gestalt geben werden. In dieser Beziehung glauben wir bewiesen zu haben, daß die Zentralisationsidee gleichfalls nur der angeborenen Vorliebe für das Hergebrachte geschuldet sei, während eine vorurteilsfreie Betrachtung gerade des bisher üblich gewesenen Zentralismus denselben für die Zwecke einer freien Gesellschaft als untauglich erscheinen lasse, also das föderalistische System zu einem erstrebenswerten stempele.