Ohne die Normalisierung von Nationalismus nach der WM in Deutschland 2006 wäre der Erfolg der AfD nicht möglich gewesen, sagt Nationalismusforscher Dario Brentin
Aufgrund der österreichischen Nichtqualifikation für die Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland werden die rot-weiß-roten Fahnen in den kommenden Wochen wohl eher im Kasten verstauben. Die Fanmeilen werden trotzdem geöffnet haben, und Menschen aus aller Welt werden die 32 Teams mit ihren geschwenkten Nationalfahnen unterstützen. Aber bin ich automatisch ein Patriot, wenn ich zu meiner Nationalmannschaft halte? Und verrate ich meine nationale Identität, wenn ich zu einer anderen Mannschaft halte? Ist das Fußballstadion vielleicht sogar der letzte Ort, wo ich stolz auf Österreich sein kann, ohne ins rechte Eck gestellt zu werden?
Nationalismusforscher Dario Brentin beantwortet diese und weitere Fragen zur Einstimmung auf die Fußball-WM 2018.
STANDARD: Am 14. Juni beginnt die Fußball-WM in Russland, Putin wird sie wohl zur Imagepflege nutzen und den russischen Patriotismus beschwören. Was macht eine Sportveranstaltung dieser Größenordnung mit einem Land?
Brentin: Solche Events sind immer ein ambivalentes Phänomen, abseits von immer fragwürdigeren ökonomischen und ökologischen Auswirkungen. Oft werden identitätspolitische Entwicklungen angestoßen, die man erst viel später wahrnimmt. Man denke etwa an den deutschen „Party-Patriotismus“ von 2006. Heute geht man davon aus, dass der Erfolg der AfD – später nochmals befeuert durch die Flüchtlingskrise – gar nicht möglich gewesen wäre ohne diese Normalisierung des Patriotismus und die Propagierung eines neuen deutschen Nationalbewusstseins während der WM 2006. In weniger demokratischen Systemen werden Großevents zur Imagepflege nach außen hin genutzt, vor allem aber auch homogenisierend nach innen – sei es zum Heraufbeschwören patriotischer Werte oder zum Zementieren von Machtstrukturen.
STANDARD: War das im Falle Russlands bei den Olympischen Spielen in Sochi 2014 auch der Fall?
Brentin: Ja, man hat gemerkt, dass Russland das Ziel verfolgte, auf der weltpolitischen Bühne als gleichberechtigter Partner wahrgenommen zu werden. Die Effektivität einer derartigen politischen Instrumentalisierung nach innen und außen hängt aber auch immer vom sportlichen Erfolg ab. Deutschlands „Sommermärchen“ von 2006 war auch nur ein solches, weil man es bis ins Halbfinale schaffte. Das wird, meiner Einschätzung nach, dieser russischen Mannschaft bei dieser Weltmeisterschaft diesmal nicht gelingen. Man hat zwar für kurze Zeit eine hohe Präsenz patriotischer Symbole und dergleichen, ob diese wirklich signifikant nachwirken, hängt aber wirklich oft von Erfolg oder Misserfolg ab.
STANDARD: Werden Spiele der Nationalmannschaft von einer anderen Art von „Fan“ besucht?
Brentin: Im Großen und Ganzen kann man das so sagen, ja. Man kann es nicht mit den organisierten Fanstrukturen im Klubfußball vergleichen. Die Art und Weise des Supports ist ja auch eine andere, weil der Bezugsrahmen eben nicht der Verein, sondern die Nationalmannschaft ist, und dieses Team ist letzten Endes – ob man es will oder nicht – eine symbolische und physische Repräsentation des Nationalstaates.
STANDARD: Ist ein Fan der Nationalmannschaft automatisch ein Patriot, ein Nationalist?
Brentin: Das kann man so verallgemeinernd nicht sagen. Leute gehen aus einer Vielzahl von Motivationen zu einem Spiel einer Nationalmannschaft, aber man hat nun mal bei solchen Spielen eine allgegenwärtige Präsenz nationaler Symbole, denen man sich letzten Endes auch unterordnet. Man akzeptiert also auch, dass man als Teil dieser Nation, als Teil einer amorphen Masse an Fans wahrgenommen wird, die sich versammelt hat, um Österreich, Russland oder Schweden zu unterstützen. Auch wenn man den einzelnen Fan natürlich differenziert sehen sollte, wird dies in der allgemeinen Wahrnehmung nicht gemacht.
STANDARD: Wie erklären Sie sich, dass teils kritisch-aufgeklärte Menschen, welche im Alltag jeglichem Patriotismus oder Nationalismus absagen, in der Stadionkurve mit Inbrunst die Nationalhymne singen und zum Radetzkymarsch die rot-weiß-rote Fahne schwenken?
Brentin: Es handelt sich dabei um ein Nationalbewusstsein in Form eines banalen Nationalismus, der sich durch ritualisierte Praktiken wie zum Beispiel das Schwenken der Stiegl-rot-weiß-rot-Fahnen äußert. Die Partizipation in solchen Aktionen findet oft gar nicht bewusst statt oder wird viel eher nicht einmal hinterfragt, viel eher handelt es sich um ritualisierte Formen der Unterstützung der Nationalmannschaft. Die Anzahl jener Fans, die abseits dieser nationalisierten Riten nationalistische Parolen oder gar rassistische Ausdrücke verwenden würden, befindet sich hier klar in der Minderheit.
STANDARD: Ist Sport im Allgemeinen die letzte Bastion, in der man stolz auf sein Land sein kann, ohne gleich ins rechte Eck gestellt zu werden?
Brentin: Ja, ich glaube, das kann man durchaus so sagen. Es ist einer dieser wenigen gesellschaftlichen Bereiche, in denen die Idee der Nation als imaginierte Gemeinschaft – wie sie der Nationalismusforscher Benedict Anderson prägte – so kraftvoll dargestellt, aber auch gelebt und reproduziert wird. In keinem anderen Bereich ist das weltweit gesellschaftlich so akzeptiert wie beim Fußball. In Österreich wäre dies zum Beispiel beim Skisport ähnlich gelagert, in anderen Staaten wiederum gilt dies für andere Sportarten auch.
STANDARD: Fragen der Nationalität und Identität führen oft zu kontroversen Diskussionen, wie etwa das Treffen der deutschen Nationalspieler Mesut Özil und İlkay Gündoğan mit Tayyip Erdoğan kürzlich zeigte. Eine globalisierte, eine von Migration geprägte Welt verändert auch die Zusammensetzung von Nationalmannschaften. Was sind die Konsequenzen?
Brentin: Identität ist in der Sozialwissenschaft ein Begriff, der aufgrund seiner Fluidität sehr umstritten ist, weil Identität im Grunde alles und nichts bedeutet. Trotz des globalisierten Fußballs kann eine Nationalmannschaft aber dennoch ein Ankerpunkt einer nationalen Identifikation werden. Auch die internationalste Veranstaltung wie beispielsweise Olympische Spiele sind letztendlich nichts weiter als eine Reetablierung internationaler Grenzen. Man ist zwar in einem internationalen Kontext, aber es stehen sich in Bewerben Nationen gegenüber, und der Erfolg und Misserfolg wird auf nationaler Ebene gefeiert oder betrauert. Nationalmannschaften sind meist ja auch ein tatsächliches Spiegelbild einer Bevölkerung. Leider hat diese repräsentativere Darstellung einer Gesellschaft fast nie – auch in Österreich nicht – Auswirkungen auf politische und gesamtgesellschaftliche Prozesse. Man kann offenbar als Nation die Tatsache vereinbaren, eine Nationalmannschaft abzufeiern, die gespickt ist mit Stars mit Migrationshintergrund, und andererseits eine derart rechtsgerichtete Bundesregierung zu haben. Das zeigt die Schizophrenie im Sport. Man soll die Bedeutung des Sports zwar nicht unterschätzen, sie aber auch nicht überbewerten. Sport ist halt doch nur die zweitwichtigste Sache im Leben!
STANDARD: Was ist mit Menschen, die eine andere Nationalmannschaft als jene unterstützen, die ihr Reisepass „verlangt“?
Brentin: Wie Sie gerade erwähnt haben, leben wir in einer globalisierten und von Migration geprägten Welt. Das ist in Österreich nicht anders. Ich finde es immer problematisch, dass Menschen abverlangt wird, sich für eine nationale Identität zu entscheiden, als wären diese seit jeher und für alle Zeiten fixiert und unveränderbar. Auch wenn das für manche schwer vorstellbar ist, kann man durchaus eine Vielzahl von Identitäten empfinden, auch nationale Identitäten. Ich bin zum Beispiel in Kroatien geboren, aber von klein auf in Österreich aufgewachsen. Ich fühle mich ab und zu als Kroate, meistens als Österreicher, aber eigentlich immer als Burgenländer. Und als solcher lasse ich mir nicht absprechen, dass meine Identität eine multikulturelle und von diversesten gesellschaftlichen Variablen geprägte Identität ist.
STANDARD: Sollten eines Tages die Vereinigten Staaten Europas eine Realität sein, gibt es dann noch die spanische, schwedische und österreichische Nationalmannschaft?
Brentin: Ja! Solange es die Fifa und Uefa in dieser Form gibt, wird es auch Nationalmannschaften geben. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es früher oder später zu sogenannten Kontinentalbewerben kommt. Dass ähnlich wie beim Ryder Cup im Golf eine europäische gegen eine afrikanische, eine südamerikanische oder eine asiatische Mannschaft antritt. Ansonsten kann ich mir nicht vorstellen, dass man ein Interesse haben wird, sich dieses extrem lukrative Geschäft der Fußballwelt- und Europameisterschaften zu nehmen.
(Fabian Sommavilla, 6.6.2018) Dario Brentin (33) ist Nationalismusforscher am Zentrum für Südosteuropastudien der Universität Graz und selbst leidenschaftlicher Fußballfan.
Text von https://derstandard.at/[…]