Zum Thema Sozialstaat

Ein Kapitel aus „Die Misere Hat System: Kapitalismus“ von „Gruppen gegen Kapital und Nation“.
Den vollständigen Text des Buches findet ihr hier.

„Na, dir werd ich helfen“: Sozialstaat

Was bislang geschah: Der Kapitalismus sorgt für eine permanente Existenzunsicherheit der Lohnarbeiter_innen (Kapitel 3, 4 und 5). Mit ökonomischen Kämpfen innerhalb des Systems muss die Arbeiter_innenklasse dafür streiten, überhaupt überleben zu können. Sie trägt so dazu bei, eine Lohnarbeiter_innenschaft zu erhalten, die funktional für einen entwickelten Kapitalismus ist, wie in Kapitel 6 gezeigt. Dort wurde bereits auf die widersprüchliche Haltung des Staates gegenüber Streiks hingewiesen. In diesem Kapitel wird gezeigt, wie der Staat die moderne Massenarmut so betreut, dass sie funktional bleibt. Damit soll auch die Frage beantwortet werden, ob der Staat der richtige Ansprechpartner für die Lohnabhängigen ist.

Als vom Lohn abhängig macht der Großteil der Bevölkerung mit dem Sozialstaat Bekanntschaft. Die Gesundheitsversorgung und die Rente wird über Sozialkassen abgewickelt. Für den Fall der Arbeitslosigkeit zahlen die Beschäftigten ebenfalls in eine Kasse ein. Im Falle dauerhafter Arbeitslosigkeit erhalten sie vom Staat eine Grundversorgung, in der BRD bekannt unter dem Namen Hartz IV. Diese durch den Staat organisierten und teils finanzierten Maßnahmen werden von den meisten Menschen als Schutz vor der Armut wahrgenommen. Hier zeige sich, dass der Staat kein einseitiger Klassenstaat mehr sei. Für diese politische Meinung muss man dann aber schon über zwei, drei Sachen hinwegsehen.

Zunächst braucht es ja nur dort eine derart umfangreiche ‚Hilfe‘ für arme Menschen, wenn Armut dauerhaft vorhanden ist und immer wieder hergestellt wird. Wer also den Sozialstaat als Errungenschaft preist, der hat sich damit abgefunden, dass trotz immensem Wissen über die Natur und Technik immer massenhaft Menschen nicht in der Lage sind, von ihrer Arbeit zu leben. Armut lindern ist eben nicht dasselbe wie Armut abschaffen.

Zweitens muss man bei der Tatsache, dass die Lohnabhängigen überhaupt eine Unterstützung erhalten, darüber hinwegsehen, wie knapp bemessen die sozialstaatlichen Leistungen sind. Statt zu fragen, wobei und wozu der Staat die Mittellosen mit seinen kleinlich errechneten Zahlungen unterstützt, stellt sich Zufriedenheit angesichts der Vorstellung ein, dass alles noch schlechter sein könnte.

Dabei drücken Politiker_innen und Medien in verschiedenen Varianten explizit aus, dass es bei den sozialstaatlichen Maßnahmen eh nicht um die Probleme des Einzelnen geht. Es dominiert die Rede davon, dass es den Sozialstaat wegen dem Zusammenhalt in der Gesellschaft brauche, oder dass die Leute gleich für „die Wirtschaft“ brauchbar bleiben sollen. Sie sagen so indirekt: Damit der Kapitalismus klappt, der dauernd Armut hervorbringt, braucht es eine Betreuung der Armut für den Kapitalismus.

Im weiteren Verlauf soll anhand der Beispiele Arbeitslosengeld I und Hartz IV in der BRD unsere These begründet werden: ★ Der Staat als Sozialstaat ist eine Hilfe für arme Menschen, damit sie
als arme Menschen im Kapitalismus leben können. Er ist eine Hilfe für die Lohnabhängigen, damit sie als Lohnabhängige im Kapitalismus leben können. Er ist eine unverzichtbare Institution für die Aufrechterhaltung einer modernen Massenarmut, die der Kapitalismus schafft und braucht.1 Der Sozialstaat ist keine Hilfe und kein Schutz für Menschen, die ihre materiellen Bedürfnisse befriedigen und sich dabei entwickeln wollen.

Vor dieser Begründung soll aber noch eine andere Frage gestellt werden: Die Vorstellung vom schützenden Sozialstaat unterstellt, dass der Staat die Armut einfach vorfindet. Stimmt das eigentlich?

Wie der Staat die Kreaturen schafft, die er bändigt

Teil 1 – Eigentümer_innen
als Lizenzträger_innen staatlicher Gewalt

Im Geschichtsunterricht ist der Manchesterkapitalismus in der Regel Pflichtprogramm. Ohne Beschönigungen wird dargestellt, wie Arbeiter_innen aller Altersschichten sich im 19. Jahrhundert buchstäblich zu Tode schufteten. Warum ging es damals so in Europa zu? Weil der Staat noch nicht richtig reguliert hätte, so die erwartete Antwort in der Klassenarbeit. Alle haben ein paar Horrorszenarien im Kopf, wenn sie sich die Frage vorlegen: Was wäre, wenn es keinen Staat gäbe? Vielen Bürger_innen ist die Rede vom „Vater Staat“ geläufig und dabei wird die politische Gewalt als schützende und fürsorgliche Instanz gedacht.

_________
1 Mit Armut ist hier zwar auch, aber nicht nur Arbeitslosigkeit angesprochen. Mit arm ist die gesamte Klasse der Lohnabhängigen gemeint. Siehe dazu das fünfte Kapitel „Einfach Klasse? Warum’s die Arbeiterklasse noch gibt, auch wenn niemand über sie reden will“, Abschnitt „Armut in armen Ländern – Armut in reichen Ländern“ auf S. 124 ff._____

Eine Grundlage dieses Gedankens ist: Wer zahlt so wenig Lohn, dass man von der Arbeit nicht leben kann? Wer lässt die Arbeiter_innen so lange und so intensiv arbeiten, dass sie ihre Gesundheit ruinieren? Wer hält sich nicht an die Lohnverträge? Wer entlässt die Lohnabhängigen und macht sie brotlos? Das sind die Unternehmen, die auch gerne „die Wirtschaft“ genannt werden. Die Wirtschaft bedrängelt die Lohnarbeitenden, nicht der Staat. Spiegelbildlich: Wer setzt sich (zumindest auch mal) für höhere Löhne (z. B. Mindestlohn) ein? Wer beschränkt den Arbeitstag und verordnet Pausen und Urlaub? Wer sorgt dafür, dass Verträge eingehalten werden? Wer kümmert sich um die Arbeitslosen? Niemals die Wirtschaft, sondern der Staat. Wenn die Wirtschaft in dieser Richtung etwas macht, dann weil der Staat sie dazu zwingt.

Bevor aber diese „Kooperation“ von Kapital und Lohnarbeit stattfinden kann, die dann so unschöne Resultate hervorbringt, ist logisch schon einiges durch den Staat gelaufen: Die konfliktreiche Zusammenarbeit beruht darauf, dass die Lohnarbeitenden kein sachliches oder geldmäßiges Eigentum haben, mit dem sie am Markt Geld erzielen können. Sie haben dafür nur ihre Dienstbarkeit, also ihre Arbeitskraft anzubieten. Das Kapital beruht drauf, dass Eigentümer_innen vorhanden sind,die über sachliches und vor allem geldmäßiges Eigentum verfügen, das sie selbst nicht zum Leben brauchen. Sie haben Geld übrig in einem Umfang, der es erlaubt, Arbeiter_innen, Produktionsmittel oder Boden zu erwerben, die dann zusammen das investierte Eigentum vermehren sollen.

Die Übereinkunft, Geld gegen Arbeitskraft, setzt den gegenseitigen Respekt vor dem jeweiligen Eigentum der Anderen voraus. Die Unternehmen müssen akzeptieren, dass es die eigene Entscheidung der Arbeiter_innen ist, für das Unternehmen zu arbeiten oder nicht. Die Lohnabhängigen müssen akzeptieren, dass alleine das Unternehmen entscheidet, was es mit seinem Geld anstellen will. Beide Seiten wollen aber gerade an das andere Eigentum heran. Und beide Seiten verweigern im ersten Schritt genau das wechselseitige Zugreifen. Weil im Eigentum selbst immer schon der Gegensatz enthalten ist, muss der Respekt den Eigentümer_innen aufgeherrscht werden.

Flächendeckend geht das nur durch eine Instanz, die selber nicht um geldmäßiges Eigentum konkurriert und das ist der Staat. Damit das Eigentum geachtet wird, verbietet der Staat beiden Seiten, den Willen des Gegenübers mit privater Gewalt zu brechen. Die Arbeiter_innen dürfen den Kapitalist_innen nicht die Knarre vorhalten und einfach Geld klauen. Die Kapitalist_innen dürfen die Lohnarbeiter_innen nicht mit der Knarre im Betrieb einsperren.

Indem der Staat das Privateigentum mit seiner Gewalt garantiert, verbietet er den Einsatz von privater Gewalt, um die Privatinteressen durchzusetzen. Dafür bietet er seine Gewalt zugleich umfangreich an: Er macht Lohnarbeiter_innen wie Kapitalist_innen zu Lizenzträger_innen staatlicher Gewalt, wenn sie mit ihrem Privateigentum aufeinander losgehen.

★ Der Staat findet also Lohnarbeiter_innen und Kapitalist_innen nicht einfach vor, sondern macht mit seiner Garantie des Privateigentums den ersten entscheidenden Beitrag zur Existenz dieser Figuren.

Wie viel Eigentum jemand sein eigen nennt, dazu stellt sich der Staat dabei erstmal gleichgültig. Er garantiert zunächst nur, dass es das Eigentum flächendeckend gibt und dass es respektiert wird. Gleichgültig ist aber nicht dasselbe wie – es ist ihm egal. Wenn er das Eigentum garantiert und von den mengenmäßigen Unterschieden absieht, dann kommt es ihm darauf an, dass die Unterschiede produktiv werden. Unternehmen gibt es nur, wenn es mittellose Menschen gibt. Lohnarbeit gibt es nur, wenn es reiche Eigentümer_innen gibt.

In der Gleichgültigkeit unterstellt der Staat die unterschiedliche Ausstattung mit Eigentum. In der Gleichgültigkeit sorgt dann die Konkurrenz für die entsprechende Wiederkehr dieser Unterschiede. ★ Das Erzwingen des Respekts vor Eigentum und die Gleichgültigkeit gegenüber der Aufteilung ist seine Art und Weise, den Kapitalismus als eine Wirtschaftsweise praktisch zu befürworten, bei der Mittellose und Eigentümer_innen so eigenartig zusammenkommen.

Privateigentum ist kein Sachzwang für den Staat. Mit dem Eigentum schafft er Sachzwänge für alle Bürger_innen: Sie müssen alle Geld verdienen mit dem Eigentum, das sie bereits haben. Dieser Sachzwang fällt dann unterschiedlich aus, je nach dem Umfang des schon vorhandenen Privateigentums. Die einen müssen ihre Arbeitskraft verkaufen. Die anderen können ihre Arbeitskraft verkaufen oder mit ihrem Geld Arbeitskraft einkaufen, Waren produzieren oder Dienstleistungen anbieten und damit das Geld vermehren. Weil Lohnarbeit scheiße ist und vergleichbar wenig bringt, betätigen sich diejenigen, die es können, als Kapitalist_innen.

Teil 2: Vertragspartner_innen
als Lizenzträger_innen staatlicher Gewalt

Im Vertrag respektieren beide Seiten das Eigentum der anderen Seite und werden sich darüber einig, was beide Seiten jeweils geben müssen, damit beide Seiten nehmen dürfen. Lohnarbeitende bekommen Geld und Unternehmen bekommen das zeitweise Kommando über die Arbeitskraft. Zugleich bleibt der Wunsch des Unternehmens, kein Geld wegzugeben, weil der Profit ja der Überschuss über den Vorschuss ist. Je weniger Lohn also, desto mehr bleibt bei der verkauften Ware beim Unternehmen. Der Lohnarbeitende hat gute Gründe sich nicht kommandieren zu lassen. Nur weil sich beide Seiten im Vertrag einig geworden sind, heißt das nicht, dass die gegensätzlichen Willen nicht mehr da wären. Wieder ist es der Staat, der beide Seiten dazu zwingen muss, sich an die Vereinbarungen zu halten, die sie freiwillig eingegangen sind. Das merkt man alleine daran, dass Lohnarbeitende häufig über die gewerkschaftliche Rechtsschutzversicherung einen Anwalt bemühen müssen, um bei Gericht den vollen Lohn oder den vollen Urlaub zu bekommen. Aber auch überall dort, wo nicht geklagt wird, halten sich die Parteien an die Abmachungen, weil der Staat als drohende Instanz permanent mit dabei ist.

Rechtssicherheit ist ein Zustand, in dem man sich grob drauf verlassen kann, dass Verträge eingehalten werden oder zumindest einklagbar sind.

★ Im Kapitalismus gibt es zwar viel Lug und Betrug, aber die allgemeinen armutsbefördernden Wirkungen des Kapitalismus resultieren aus dem Respekt vor dem Eigentum und dem Einhalten von Verträgen. Was dabei passiert und warum Armut herauskommt, davon handelte bislang dieses Buch.

Wenn aber Eigentumslosigkeit, niedrige Löhne, gesundheitsverzehrende Arbeit, wenig Freizeit oder gar Arbeitslosigkeit, kurzum Armut, Resultat des kapitalistischen Wirtschaftens sind, dann soll hier betont werden: Der Staat findet nicht einfach Armut vor, mit der er sonst nichts zu tun hätte. Er verordnet einen Verkehr unter den Menschen, der die Kreaturen Lohnarbeiter_innen und Kapitalist_innen und damit Armut notwendig hervorbringt – und dies nicht ein Mal vor 200 Jahren, sondern jeden Tag aufs Neue. Der Staat sorgt so für die Armut, die er dann vorfindet.

★ Der Staat findet insgesamt den Kapitalismus als gesellschaftliches ökonomisches Verhältnis nicht einfach vor, sondern setzt es permanent mit seiner Gewalt buchstäblich ins Recht. Mit der bloßen Eigentumsgarantie, dem Vertragsrecht und deren rechtlicher Ausgestaltung, die ganze Gesetzesbücher füllt, ist der Staat aber nicht am Ende mit seinem politischen Beitrag zur kapitalistischen Ökonomie. Selbst die potenten Geldeigentümer_innen können auf dieser Grundlage gar nicht so einfach loswirtschaften. Verkehrswege, gar eine eigene Autobahnauffahrt und andere Infrastruktur, wie eine flächendeckende, günstige Stromversorgung, bekommen sie gar nicht im nötigen Umfang für ihre Kapitalinteressen zustande. Der Staat ist hier helfend aktiv, damit sich auf dieser Grundlage die Investitionen der Privaten lohnen. Er verspricht dabei keinem_r einzelnen Kapitalist_in, dass der Betrieb erfolgreich sein wird – Betriebspleiten gehören zur von ihm gestifteten Konkurrenz der Kapitale nunmal dazu.

Mit dem gleichen Blick geht er auf die lohnabhängige Klasse zu. Arbeiter_innen wird keineswegs versprochen, dass sie mit ihrem Geschäft, dem Verkauf von Dienstbarkeit, gut über die Runden kommen. Der Staat tut aber viel dafür, dass eine Existenz als Lohnarbeiter_in prinzipiell möglich wird. Wie und in welchem Maße soll im Folgenden erläutert werden.

Um zuvor auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Findet der Staat die gesellschaftliche Armut einfach vor oder ist er nicht selber Urheber der Armut? Die Antwort lautet: beides. ★ Der Staat schafft die Kreaturen Lohnarbeit_innen und Kapitalist_innen und deren freies Wirken bringt die Armut hervor. Die findet dann der Staat vor und reagiert. Wenn er die Lohnabhängigen ‚schützt‘, dann vor Wirkungen, die der Staat selbst initiiert. Der Kapitalismus ist also nicht einfach eine Ökonomie, sondern er ist politische Ökonomie.

Das Arbeitslosengeld 1:
Wer hilft hier wem und warum?

Beschäftigte Lohnarbeiter_innen beziehen häufig einen so niedrigen Lohn, dass sie davon schon kaum leben können. Er reicht dann erst recht nicht, um sich für die schlechten Zeiten Geld zurücklegen zu können. Schlechte Zeiten sind also auch vorhanden, wenn die Arbeiter_innen beschäftigt sind, garantiert sind sie aber, wenn sie gar nicht arbeiten dürfen oder können: bei Krankheit, im Alter oder eben schlicht durch den Umstand, dass sie für den Profit nicht (mehr) gebraucht werden.

Schon mit den Kündigungsschutzgesetzen interveniert hier der Staat mit einer sozialstaatlichen Maßnahme. Diese definieren aber nur, unter welchen Bedingungen ein Unternehmen seine Angestellten entlassen und brotlos machen kann. Die Gesetze schützen nicht vor Arbeitslosigkeit, wie die tagtäglichen Berichte von Entlassungen faktisch zeigen. Sie bieten den Lohnabhängigen in bestimmten Fällen den Schutz vor Entlassungen, wenn das Unternehmen noch Gewinne macht. So soll es Lohnabhängigen möglich gemacht werden, mit ihrer Einkommensquelle eine wie auch immer bescheidende Lebensführung zu planen. Das hat aber keine Berechtigung mehr, wenn das Unternehmen keine Gewinne mehr macht. Daher ist es auch folgerichtig, wenn der Staat davon ausgeht, dass die Wirtschaftsweise, die er ins Leben ruft und über die er regiert, immer wieder und dauerhaft Arbeitslose schafft. Wer Kündigungsschutzgesetze sagt, sagt auch Arbeitslosigkeit.
Das Arbeitslosengeld 1 (ALG I) ist dann eine weitere Masche im sozialstaatlichen Netz. Wer mindestens ein Jahr beschäftigt war und in die Arbeitslosenkasse
eingezahlt hat, erhält für eine bestimmte Zeit das ALG I.

Die Mitgliedschaft in dieser Versicherung überlässt die BRD keinem Zufall. Diejenigen, die viel verdienen, dürfen frei entscheiden, ob sie in die Versicherung einzahlen wollen oder nicht. Wer wenig verdient, wird schlicht gezwungen, in diese Vorsorge für die Arbeitslosigkeit einzuzahlen. (Von den Ausnahmen im Niedriglohnbereich, die die BRD in den letzten Jahren geschaffen hat, wird hier abgesehen).

Der Staat traut diesen Lohnabhängigen zu recht nicht zu, dass sie von selbst drauf kommen, Vorsorge zu treffen. Wenn am Ende des Lohns noch so viel Monat übrig ist, dann kann man nichts zurücklegen.

Dem Staat ist das in Gestalt seiner Sozialpolitiker_innen nicht entgangen und ‚hilft‘ den Lohnabhängigen bei der Vorsorge, indem er sie zu dieser zwingt. Der Staat misstraut der Lage der Lohnarbeitenden derart, dass er sich den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung gleich vom Unternehmen überweisen lässt, damit die Lohnabhängigen das Geld nicht verplempern.

Die Höhe des ALG I orientiert sich an der Höhe des Lohnes, den der ehemals Beschäftigte zuvor verdient hat. Mit einem Abschlag um 30– 40 %. Eine, die vorher 1.000 Euro verdient hat, erhält etwa 600 Euro ALG I, einer der 3.000 Euro verdient hat, etwa 1.800 Euro ALG I.

Der Abschlag vom bisherigen Einkommen nötigt den Arbeitslosen, seine Lebensführung neu zu sortieren. Je nach vorheriger Lohnhöhe entfällt der Restaurant- oder Kneipenbesuch, die Mitgliedschaft in dem einen oder anderen Verein wird gekündigt. Der Computer, der vielleicht mal wieder neu gekauft werden müsste, muss jetzt erstmal warten. Gründe genug für den Lohnabhängigen, sich nach einem neuen Arbeitgeber umzuschauen. Auf der anderen Seite sorgt die Verknüpfung von Lohn und Arbeitslosengeld dafür, dass man seine Wohnung oder sein Auto nicht gleich verkaufen muss. Auch die Computerfachzeitschrift, die man für seinen bisherigen Beruf brauchte, muss nicht gleich abbestellt werden, wenn man an anderer Ecke spart. Eine kontinuierliche Lebensführung relativ zu dem, was es an privater Infrastruktur für den bisherigen Job brauchte, soll in der bisherigen Region bei einigem Gürtel-enger-schnallen, erhalten bleiben. Als Versicherungsleistung dürfen ALG-I-Bezieher_innen Vermögen, das sie angesammelt haben, behalten, was ebenfalls zu einer solchen Lebensführung beiträgt.

Dass es beim Arbeitslosengeld I um diese kontinuierliche Lebensführung relativ zum Beruf geht, zeigt sich auch an den Bedingungen, die der Staat an den Bezug knüpft. Er erwartet, dass man sich bemüht, in den Wirtschaftsprozess wieder reinzukommen, der einen gerade ausgespuckt hat. Man muss nachweisen, dass man sich um freie Stellen auf dem Arbeitsmarkt bewirbt. Das Amt hilft dabei, indem es den Arbeitslosen mit Stellenangeboten versorgt. Dabei werden für das ALG I Kriterien definiert, welche Stellen zumutbar sind (§ 121, Sozialgesetzbuch III). Indirekt ist damit rechtlich geregelt, welche Stellen vom Arbeitslosen abgelehnt werden können, ohne dass er sein Recht auf ALG I verliert. Für die erste Zeit muss man Stellen, deren Lohn deutlich niedriger ausfällt als zuvor oder die außerhalb der Region liegen, in der man wohnt, nicht annehmen. Ein_e Automechaniker_in aus Norddeutschland, braucht so keinen Call-Center-Job anzunehmen, auch kein Angebot einer Werkstatt aus Bayern.

Die Regeln der zumutbaren Arbeit sind indirekt ein Qualifikationsschutz, d. h. eine gewisse Garantie, dass man sich als Lohnarbeiter_in darauf konzentrieren darf, in dem bisherigen Beruf wieder eine Anstellung zu finden. Der Staat zeichnet hier das kapitalistische Phänomen der vorübergehenden Arbeitslosigkeit nach. Die eine Werkstatt braucht den_die Mechaniker_in gerade nicht, vielleicht aber wieder in drei Monaten. Oder eine andere Werkstatt in der Region sucht gerade händeringend nach einem_r qualifizierten Mechaniker_in.

Die ‚Hilfe‘ der Sozialkasse, die der Staat organisiert, ist also nicht nur eine Unterstützung für den Lohnabhängigen in seinem Versuch, sich als Lohnabhängiger durchs Leben zu schlagen, sondern zugleich eine für die Unternehmen. Wenn Menschen schon eine Ausbildung genossen und Berufserfahrung haben, dann sollen sie auch denjenigen Unternehmen zur Verfügung stehen, die sie brauchen. Die Logik des Profits schließt ein, dass Arbeiter_innen brotlos gemacht werden. Die Logik schließt ein, dass die Unternehmen sich nicht weiter um die arbeitslosen Existenzen kümmern. Die Logik schließt ein, dass die Unternehmen immer wieder auf qualifizierte Arbeiter_innen zurückgreifen können. ★ Mit der staatlichen Hilfe für die Arbeitslosen unterstützt er also die Rechnungsweisen des Kapitals.

Nach ein paar Monaten ALG I wird der Staat weniger kulant. Ab jetzt wird gefordert – und die Agentur sorgt schon für die entsprechenden Angebote – , bundesweit Stellen an- und einen Umzug in Kauf zu nehmen. Die Lohnhöhe der angebotenen Stellen, die man ablehnen kann, wird in zwei weiteren Schritten gesenkt. Wenn die Arbeitslosen also innerhalb von ein paar Monaten zu ihren alten Konditionen keine neuen Stellen angetreten haben, dann scheint dem Staat die Arbeitslosigkeit nicht mehr ganz so vorübergehend zu sein.

Dieser Prozess der Dequalifizierung ging bis zu den Hartz IV-Reformen noch seinen Zwischenschritt über die Arbeitslosenhilfe. Seit dem 01.01.2005 ist der Bruch radikaler. Wenn das ALG I abgelaufen ist, beginnt das ALG II – besser bekannt unter Hartz IV.

Das ALG II: Fordern und Fördern wozu?

Im Unterschied zum ALG I ist die Höhe des ALG II nicht entlang des ehemaligen Lohnes berechnet. Wenn man antragsberechtigt ist, bekommt man den Krankenkassenbeitrag, die Miete bis zu einem bestimmten Betrag und dann noch einen Restbetrag zur minimalen Lebensführung ausbezahlt. Einen Qualifikationsschutz gibt es so gut wie gar nicht mehr. Man muss jeden Job annehmen – egal was man vorher mal gelernt oder gemacht hat.2 Ein Vermögen

_______
2 Eine der wenigen Ausnahmen ist z. B. dann vorhanden, wenn der neue Job droht die alten Berufsfähigkeiten unwiderruflich zu zerstören. Ein_e Klavierspieler_in, der_die ein bisschen filigrane Hände braucht, soll auf dem Bau seine_ihre Hände nicht ruinieren.______

in Gestalt einer Geldrücklage, eines Hauses oder eines Autos darf man nur begrenzt sein Eigentum nennen. Bevor der Staat hier eine Unterstützung gewährt, muss man ein zu wertvolles Auto verkaufen, das Geld aufbrauchen und erst später fängt der Staat dann an die Unterstützungsleistung zu zahlen.

Im Vergleich zum ALG I sollen die ALG II-Bezieher_innen ihren Gürtel noch enger schnallen und der Druck, jeden Job anzunehmen, verschärft sich entsprechend.3 Man kommt mit dem Geld einfach kaum über die Runden, was sich schon daran zeigt, dass sich viele ALG II-Bezieher_innen um die 1 Euro-Jobs reißen und gar nicht sonderlich dazu gezwungen werden müssen, um wenigstens 100 Euro mehr in der Tasche zu haben.

Mit diesen Konditionen schmiegt sich die BRD zunächst an zwei weitere Resultate kapitalistischer Arbeitslosigkeit und an eine besondere Art der Beschäftigung an: Erstens verändert der kapitalistische Einsatz von Maschinerie und die kapitalistische Konkurrenz mittels neuer Produkte den Bedarf an bestimmten Fähigkeiten der Lohnarbeiter_innen. Wenn die Arbeitsprozesse in der Maschinerie standardisiert und vorgegeben sind, benötigt es nur noch einige wenige qualifizierte Arbeiter_innen, die sich technisch mit der Maschine auskennen, zugleich mehr unqualifizierte Arbeiter_innen, die der Maschine einfach zuarbeiten. Zweitens können ganze Industriezweige in der Konkurrenz auch weitgehend zugrunde gehen, wie Fischerei, Bergbau oder Textilindustrie. Die Vorteile des internationalen Freihandels für andere Branchen waren der BRD einfach wichtiger als der Schutz dieser Branchen durch Zölle, Steuern oder Subventionen.

In beiden Fällen bleiben zuvor gebrauchte qualifizierte Arbeitskräfte übrig, die entsprechend ihrer Spezialisierung auch im Konjunkturaufschwung nicht mehr gebraucht werden. Wenn die Arbeiter_innen nach dem Bezug ihres ALG I immer noch keinen Arbeitsplatz in ihren bisherigen Branchen gefunden haben, dann ist das der BRD Beweis genug, dass diese Arbeitslosen sich neu orientieren sollten. Woanders gibt’s ja vielleicht noch Bedarf und der Staat schubst die Menschen mit den verschärften Konditionen des ALG II zu den suchenden Branchen.

Auch in diesem Falle ist die Überbrückungshilfe für die Lohnabhängigen eine Hilfe für die Unternehmenswelt in ihrer Suche nach passenden Arbeitskräften.

_________
3 60– 70 % des bisherigen Lohnes (ALG I) können weniger Geld sein als der feste ALG II-Satz, wenn der Lohn entsprechend niedrig war. Dass viele ALG I-Bezieher weniger Geld bekommen als ein ALG II-Bezieher, ist Resultat der Lohnentwicklung der letzten Jahre. Diese ALG I-Bezieher können ergänzend ALG II beantragen, verlieren damit aber automatisch jeden Qualifikationsschutz._________

Das ALG II umrahmt aber auch eine besondere Form der Beschäftigung:
Unternehmen kann der Lohn nicht niedrig genug sein. Dass Lohnabhängige von ihrer Arbeit, wie schlecht auch immer, leben können, muss im ökonomischen Klassenkampf gegen die Unternehmen durchgesetzt werden.4 Oder der Staat muss Mindestlöhne erzwingen. Es geht aber auch anders: Die Unternehmen bezahlen Löhne, von denen Lohnabhängige nicht überleben können. Die Lohnabhängigen beantragen ergänzend ALG II und kommen dann mehr schlecht als recht über die Runden. Der Staat stockt hier den minimalen Mindestbetrag zum Leben auf. Ein nicht kleiner Teil der Arbeiterklasse in der BRD kommt so über die Runden.

Der Staat hilft hier den arbeitenden Lohnabhängigen, als arme Menschen zu leben. Er hilft damit zugleich den Unternehmen in ihrem Wunsch nach Niedriglöhnen, ohne dass die Arbeiterklasse darüber kaputt geht – die das Kapital doch braucht.

Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist

Der Staat setzt mit dem Eigentum und dem Vertragsrecht die elementaren Voraussetzungen für die Existenz von konkurrierenden Privateigentümern. Anhand der Sozialleistungen ALG I und ALG II wurde aufgezeigt, dass die ökonomische Figur Lohnarbeiter_in erst mit der Staatsfürsorge dauerhaft als Lohnarbeiter_in existieren kann.

★ Der Staat hilft nicht den Menschen in ihrem Interesse an einer gesicherten materiellen Bedürfnisbefriedigung mit Entwicklungsperspektive, sondern er hilft mittellosen Menschen, eine Existenz als Lohnarbeiter_in zu führen. Daher sind die sozialstaatlichen Leistungen zugleich eine Hilfe für das Kapital.

Auch wenn die Manager_innen das nie einsehen, gelingen ihre kapitalistischen Unternehmungen nur, wenn der Staat dafür sorgt, dass die Gleichgültigkeit gegen das Überleben der Menschen aufgefangen wird. Der Staat zeigt sich hier als „ideeller Gesamtkapitalist“. 5 Er ist es nur „ideell“, weil er praktisch, also reell, gar kein Geld vorschießt, um hinterher durch verkaufte Waren und Dienstleistungen einen Profit zu erzielen. Im Gegenteil gibt er ja gerade Geld für Sachen aus, die sich für ein Unternehmen

___________
4 Siehe das sechste Kapitel, Abschnitt „Daß du untergehst, wenn du dich nicht wehrst / Das wirst du doch einsehen“, S. 136.
5 Die Argumente in diesem Absatz und dem folgenden Abschnitt gelten auch dafür, wie der Staat das Verhältnis Umweltschutz und Wirtschaftswachstum behandelt. Am Ende des letzten Kapitels „Umweltverschmutzung – Der große Müllhaufen der kurzen kapitalistischen Geschichte“ (S. 168) wurde auf die Güterabwägung bei Umweltauflagen hingewiesen. Hier kann man sich daran erinnern und mit etwas Phantasie und mit anderen Beispielen im Kopf überall, wo von der „Arbeitskraft“ die Rede ist, einfach „Umwelt“ einfügen, „Sozialstaat“ durch „Umweltpolitik“ ersetzen und „Sozialstaatsillusionen“ durch „Umweltschutzillusionen“.__________

unmittelbar gerade nicht lohnen. Er ist insofern ein „Kapitalist“, als er von seiner Gesellschaft will, dass insgesamt ein immer höheres in Geld bemessenes Wachstum zustande kommt. So weiß noch jede Regierungspartei, dass die Förderung des nationalen Wachstums das A und O der Politik ist. Der Staat ist ein „Gesamtkapitalist“, weil er Sachen für das kapitalistische Wachstum organisiert, die kein „Einzelkapitalist“, also kein Unternehmen, zustande bekommt.

Die Logik des Einzelkapitals ruiniert die Arbeitskraft so, dass sie nicht mehr brauchbar ist. Dabei braucht doch das Unternehmen Arbeitskräfte, die einigermaßen in Schuss sind. Zusammengefasst:
★ Die kapitalistische Wirtschaftsweise als national erfolgreiche ist der Zweck des Staates. Die nationale Ökonomie ist der Goldesel, aus dem der Staat seine Macht bezieht. Mit den sozialstaatlichen Maßnahmen begleitet er nicht einfach ein Projekt, mit dem er sonst nichts zu tun hätte, sondern setzt so sein eigenes Projekt durch.

Sozialstaat wirtschaftspolitisch gewendet –
Quell linker Sozialstaatsillusionen

Indem der Staat einen Sozialstaat organisiert, verfügt er selbst über beachtliche Lohnbestandteile in Form von Sozialversicherungsbeiträgen. Die Gesetze, die bestimmen, wie hoch die Beiträge sind, wie hoch die Leistungen ausfallen, wer unter welchen Bedingungen ALG I oder ALG II bekommt, lassen sich mit parlamentarischer Mehrheit verändern. Diese Gesetze geraten daher auch immer in den Blickwinkel der Politik, wenn sie Wirtschaftspolitik betreiben will. Wirtschaftspolitik zielt darauf ab, das Wachstum des nationalen Kapitals zu verbessern. In diesem Ziel ist unterstellt, dass das Wachstum überhaupt geht, also z. B. eine brauchbare Arbeiter_innenklasse durch die sozialstaatlichen Leistungen insgesamt vorhanden ist. Jetzt ist nur die Frage, wie die Kapitale noch besser Gewinne machen können.

Und von diesem Blick aus erscheinen alle Sozialstaatsmaßnahmen als Hindernis. Die Beiträge belasten die Unternehmen, weil es für sie schlicht Lohnkosten sind. In diesem Sinne sehen sie sich auch durch die Leistungen des Sozialstaates belastet, insofern die Ausgaben die Einnahmen bestimmen. Dass Arbeitslose unter bestimmten Umständen zeitweise auch mal Qualifikationsschutz genießen, erscheint wie eine Hängematte. Den Druck zu erhöhen oder die Leistungen zu kürzen, erscheint als sinnvoll, damit die Arbeitslosen bei der Jobsuche nicht so anspruchsvoll sind und sich auch mit weniger zufrieden geben.

Das hat dann auch eine Folgewirkung auf alle Beschäftigten. Wie verzweifelt sich die Arbeitslosen nach jedem Job zu jeder Lohnhöhe strecken müssen, wirkt auf bestehende Löhne und gewerkschaftliche Kämpfe. Gerade die HartzIV-Reformen waren hier ein eindrucksvolles Zeugnis, wie der Staat mit dem Sozialstaat mächtig zum Lohnsenken beitragen kann. Nur: ★ Der Zweck des Sozialstaates ist nicht das Lohnsenken, sondern die Ermöglichung der Einkommensquelle Lohnarbeit. Dass der Sozialstaat für wirtschaftspolitische Manöver benutzt werden kann, ist eine logische Folgewirkung.

Dies sehen Linke anders, die den „Abbau des Sozialstaates“ beklagen, anstatt einen Umbau festzustellen. Indem sie am bestehenden Sozialstaat durch einen Vergleich zum Vorher nur die Verschlechterung der Konditionen für die Lohnabhängigen festhalten (und seit den 1970er in der BRD ist dies die faktische Tendenz), übersehen sie den zynischen Gehalt des Sozialstaates überhaupt. Sie kommen dann auf Forderungen, wie Hartz IV abschaffen – als wenn der Sozialstaat in den 1990er Jahren etwas Gutes gewesen wäre.

★ Sie wollen mehr Staat bzw. Sozialstaat und rufen so den Mitverursacher und Betreuer der Armut als rettende Instanz an.

Eine letzte Zielgruppe des ALG II:
Ökonomisch unbrauchbar & trotzdem nicht vergessen

Während bislang an den Leistungen und den Zielgruppen aufgezeigt werden konnte, dass die Lohnarbeitenden wieder in die Beschäftigung kommen sollen, sieht es bei einer dritten Gruppe des ALG II anders aus. Der Staat hat nämlich bemerkt, dass es eine sogenannte „strukturelle Arbeitslosigkeit“ gibt. Das Kapital sorgt nicht nur dafür, dass einige Branchen weniger Arbeitskräfte brauchen, dafür andere Branchen wachsen und mehr brauchen. Dauerhaft gibt es Lohnabhängige, die das Kapital überhaupt nicht (mehr) braucht. Insgesamt gibt es in jeder Branche das Bedürfnis, die Lohnstückkosten zu senken. Durch den Einsatz neuer Maschinerie können weniger Arbeiter_innen die gleiche Warenmenge hervorbringen und wenn der Preis der neuen Maschine entsprechend ist, dann sind die Kosten eine Waren herzustellen (Maschinerie + Lohn + Rohstoffe) geringer. Unternehmen können dann die einzelne Ware billiger anbieten, den Markt erobern und dadurch einen höheren Profit erzielen. Der Vorteil ist vorübergehend, wenn die Konkurrent_innen das Gleiche machen und im Stand der Technik nachziehen. Das ist dann aber nur der Ansporn, wiederum mit Rationalisierungen einen neuen Vorteil zu erreichen.

So sorgen alle Unternehmen dafür, dass insgesamt weniger Arbeitskräfte gebraucht werden und die arbeitslosen Opfer der Rationalisierung keine neue Beschäftigung finden. Wenn Unternehmen dann ihre Produktion mit den Gewinnen ausweiten, werden auch neue Arbeitskräfte gebraucht. Ein neuer Arbeitsplatz, der dem Unternehmen mehr Gewinn bringen und nicht einfach Beschäftigung schaffen soll, kostet jetzt aber mehr. Denn ein neuer Arbeitsplatz kostet das Unternehmen nicht nur den Lohn, sondern auch entsprechend den Aufwand der neuen Maschinerie, um den_die Arbeiter_in arbeiten zu lassen. In der Regel sind die effektiveren Maschinen teurer als die alte Technik und so kostet ein neuer Arbeitsplatz so schon mehr Geld als einer mit der alten Technik.

Weiter verbraucht ein_e Arbeiter_in an einem Tag viel mehr Rohstoffe als unter der alten Technik. Eine_n Arbeiter_in arbeiten zu lassen, erhöht also auch nach dieser Seite den Kapitalvorschuss. Die dauerhaften Rationalisierungsbemühungen der Unternehmen setzen also massenhaft Arbeiter_innen auf die Straße und dieselben Bemühungen haben zur Konsequenz, dass die Schaffung neuer Arbeitsplätze tendenziell immer höhere Geldauslagen verlangen. So schafft das Kapital ein Arbeitslosenheer, dass nicht als Reservearmee für zukünftige Investitionsoffensiven funktioniert, sondern ein Heer dauerhaft nicht gebrauchter Arbeiter_innen. Das ist die Systematik an der „strukturellen Arbeitslosigkeit“.

Diese Gruppe finanziert die BRD ebenfalls mit dem ALG II und verlangt von ihnen die Sisyphusarbeit, ständig Bewerbungsschreiben rauszuschicken, Maßnahmen der Arbeitsagentur mitzumachen, auf Kommando beim Arbeitsamt zu erscheinen und für eine Abwesenheit vom Wohnort quasi Urlaub zu beantragen.
Der ‚Nutzen‘ des ALG II für diese Menschen ist, dass sie nicht einfach verhungern, sondern als Armutsgestalten überleben können. Der Nutzen fürs Kapital besteht höchstens indirekt, weil die Masse an Arbeitslosen auf den Lohn derjenigen drückt, die das Kapital doch wieder einstellt. Ansonsten werden sie aber nicht gebraucht und ihre Bewerbungsschreiben mit einer längeren Lücke im Lebenslauf gleich ausgemustert.
Während der Staat als quasi nationaler Gesamtunternehmer bei den anderen Arbeitslosen schon darauf abzielt, sie für den nationalen kapitalistischen Zirkus zu erhalten, ist hier das Interesse ein anderes. Menschen, die auf Dauer kein Unternehmen haben will und damit in dieser Gesellschaft völlig perspektivlos sind, sollen angehalten werden, weiter als bürgerliche Konkurrenzsubjekte zu kalkulieren. Sie haben immer noch etwas zu verlieren, so die Botschaft des Staates – nämlich das bisschen ALG II. Sie sind angehalten, unter Drohung der Leistungskürzung, sich weiter an das Gesetz und die guten Sitten zu halten.

Sie sollen aus eigenem Interesse heraus weiter Danke und Bitte sagen. Noch bei denjenigen, die anschaulich nichts von dieser Gesellschaft haben, will der Staat Anhaltspunkte bieten, warum es sich lohnen würde, aus eigenem Interesse heraus, Anstand zu bewahren. Auch der soziale Friede gehört zu einem funktionierenden Kapitalismus dazu.

Das Gegenteil zum sozialen Frieden, den der Staat damit befördern will, ist nicht gleich die Revolution, wie manche Linke glauben. So zeugten z. B. die Riots in den französischen Vorstätten 2005 nicht von revolutionären Absichten. Dort haben Menschen schlicht Kindergärten, Schulen, Jugendzentren und Polizeistationen demoliert. Man kann daran bemerken, wie dauerhaft arbeitslose Menschen diejenigen Institutionen der Gesellschaft angriffen, mit denen sie überhaupt in der Praxis in Kontakt treten. Sie griffen also durchaus irgendwie die Gesellschaft an, machten sie als ihren Gegner aus. Zugleich kann man bemerken, wie ziellos diese Riots waren, wenn Zerstörung die ganze Aktion ist.

Hier waren Menschen unterwegs, die die Gesellschaft nicht mehr als Chance, sondern nur noch als Gegner ausmachten. Die Reaktion des Staates war dann ein Doppeltes: Einerseits pure Gewalt. Andererseits ein paar Sozialmaßnahmen, mit denen er signalisieren wollte: Leute, auch für euch gibt es noch Perspektiven. ★ Einige Geldsummen verwendet der Staat also bloß dafür, den Menschen Anhaltspunkte für ihre Phantasie zu liefern, dass man sich Chancen ausrechnen könne – auch wenn die Ökonomie sie anschaulich vollkommen abgeschrieben hat.

Auch ein Vater kann Scheiße sein . . .

Am Beispiel der BRD wurde der Inhalt des Sozialstaates bezüglich der Arbeitslosigkeit dargestellt. Vom Prinzip lässt sich das auf die anderen kapitalistischen Staaten übertragen, auch wenn sich in diesen die Art und Weise und die bestimmten Konditionen für den Bezug von Stütze unterscheiden.6 Der Staat schafft mit dem Eigentum die entscheidende Grundlage für die kapitalistische Ökonomie. Mit seinen sozialstaatlichen Maßnahmen reagiert er also nicht einfach auf Umstände, mit denen er nichts zu tun hätte. Er flankiert damit vielmehr sein eigenes Projekt: nationales in Geld bemessenes

__________
6 Im „World Social Security Report 2010/11“ der UN-Arbeitsorganisation ILO heißt es: „Es gibt kein Land in der Welt ohne irgendeine Form von sozialer Sicherheit, aber oft deckt sie nur wenige Teilgebiete ab und nur eine Minderheit der Weltbevölkerung hat beides – einen legalen und einen effektiven Zugang. Nur ein Drittel der weltweiten Länder (in denen 28 % der Weltbevölkerung lebt) haben ein umfassendes Sozialsystem mit allen Teilgebieten der sozialen Sicherheit, wie es in der ILO-Vereinbarung No. 102 definiert ist“ (aus dem Englischen übersetzt, http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/\T1\textendash{}dgreports/\T1\textendash{}dcomm/\T1\textendash{}publ/documents/publication/wcms_146566.pdf, S. 49; gefunden am 05.10.2012.)_________

Wirtschaftswachstum. Nur: Mit der Betreuung der Arbeitslosigkeit verhindert er keine Armut, sondern betreut die Armut. So sehr, dass sich die Lohnabhängigen aus eigenen Kalkulationen wieder in das Wirtschaftsleben stürzen wollen, das sie drangsaliert, arm hält und dann periodisch oder dauerhaft ausspuckt. Wenn das mal keine Hilfe ist.

Ein Nachtrag: Materielles Interesse und Moral

Die Lohnabhängigen sollen aus eigener Kalkulation mitmachen. Was heißt das? Bislang wurde anhand der Sozialstaatsmaßnahmen dargestellt, wie diese auf das materielle Interesse der Lohnabhängigen Bezug nehmen, wie diese noch in den armseligsten Unterstützungen die Menschen an dem Versprechen packt, dass jede_r seines_ihres Glückes Schmied ist. Im ALG I unterstützt der Staat die Lohnarbeiter_innen, wieder in ihrem Beruf tätig zu werden. Zugleich bedrängelt der Staat die Menschen, wenn er sie materiell unter Zugzwang stellt: Wie lange kannst du es dir leisten, nur mit 60-70 % des letzten Lohnes über die Runden zu kommen? Entscheide selbst. Du musst Stellenangebote aus deiner Berufsbranche annehmen, sonst gibt es kein Geld mehr. Entscheide selbst. Im ALG II erhöht der Staat diesen Druck. Und auch für diejenigen, die gar nicht mehr ökonomisch gebraucht werden, bleibt der Druck: Tu was, sonst verlierst du dein letztes Geld. Es ist deine Entscheidung.

Zugleich ist immer eine zweite Botschaft an die Arbeitslosen in der Öffentlichkeit präsent. Die Gesellschaft gibt dir etwas und du gibst der Gesellschaft als Arbeitslose_r nichts. Dafür solltest du einerseits verdammt dankbar sein und dich anderseits gehörig schämen. Die Arbeitslosen sollen nicht bloß an sich und ihre materiellen Interessen denken, sondern an ein moralisch höheres Prinzip: Ein guter Mensch gibt der Gesellschaft etwas, wenn er von ihr lebt. Wer nur nimmt, der ist ein Schmarotzer, ein Nichtsnutz, ein unwürdiger Mensch. Auch das ist eine Weise, auf die Kalkulationen der Arbeitslosen zu setzen. Wenn Arbeitslose das genauso sehen, dann ist der materielle Druck im ALG I und ALG II Nebensache. Der Hauptdruck besteht dann darin, dass der_die Arbeitslose sich selber als Person im Spiegel nicht mehr anschauen mag.

Dann macht nicht mehr nur die ökonomische Existenz als Lohnarbeiter_in das Leben so trostlos, sondern die Menschen machen sich selber im Spiegel ihrer Moral fertig. Mehr zu dieser geistigen Leistung im kommenden Kapitel.